Ein kleines Stück Unendlichkeit

Sebastian Baumann konnte mit Recht von sich behaupten, völlig normal zu sein.
In seinem bisherigen Leben hatte sich noch nie etwas Unvorhersehbares ereignet.
Als Immobilienmakler hatte er immer gut verdient, so dass er mit 32 endlich Eva, die Frau seiner Träume, hatte heiraten können. Nun feierten sie schon zum fünften Mal gemeinsam Weihnachten, und es hatte sich hierbei inzwischen eine Art Routine eingespielt. Eva briet die Weihnachtsgans, während Sebastian bereits die Geschenke in das weihnachtlich dekorierte Wohnzimmer brachte und den Tisch deckte.
Nach dem Essen begaben sich beide zum Christbaum, um die Päckchen zu öffnen.
Sie schenkten sich gegenseitig nie besonders viel, immer nur zwei Kleinigkeiten für jeden, deshalb war Sebastian überrascht, dass dieses Jahr fünf Geschenke statt nur vier unter dem Baum lagen.
Als die vier üblichen Pakete ausgepackt waren, wandte sich Eva dem mysteriösen fünften zu.
„Das hier ist für dich“, sagte sie erstaunt, „da steht dein Name drauf, aber von mir ist es nicht.“
Verwundert nahm Sebastian das Päckchen entgegen.
Es hatte die Form eines quadratischen Kästchens und war in ein glänzendes, blaues Papier mit dünnen goldenen Streifen darauf verpackt. An der Seite stand sein Name in einer geschwungenen Schreibschrift, die besser in das 19. Jahrhundert gepasst hätte als in die heutige Zeit.
Sebastian öffnete die riesige, kupferfarbene Schleife, die das Geschenk verschloss.
Er griff in das Paket und holte den Inhalt heraus.
Staunend betrachtete er den Gegenstand, der in der würfelförmigen Geschenkbox versteckt gewesen war. Auf den ersten Blick wirkte es wie eine gewöhnliche Schneekugel, eine von jenen, an denen sich Kinder so gerne erfreuen, indem sie das weiße Glück über eine Miniaturstadt oder eine kleine Figur rieseln lassen.
Doch der Glasball in Sebastians Hand verlor seine Normalität sehr schnell, sobald man ihn näher betrachtete. Statt eines Dorfs oder einer Skulptur befand sich ein winziges aber, soweit Sebastian das beurteilen konnte, detailgetreues Modell des Sonnensystems in der Kugel.
Den Schnee ersetzten klitzekleine Sterne, die jedoch nicht - wie sonst immer - mit nur fünf Zacken abgebildet, sondern durch echt wirkende Bällchen mit unzähligen, kleinen Stacheln dargestellt waren, die von Innen heraus zu leuchten schienen.
Sebastian versank völlig in der Betrachtung der so unglaublich genau angefertigten Planeten. Besonders die Erde hatte es ihm angetan. Die einzelnen Kontinente waren problemlos zu unterscheiden. Bei näherem Hinsehen, konnte man sogar ein paar der größeren Inseln des blauen Planeten ausmachen.
Sebastian begutachtete noch die anderen Himmelskörper, dann schüttelte er die Schneekugel.
Die Welt um ihn herum verschwand.
Er spürte ein Ziehen im Magen, als würde er mit einer Achterbahn fahren.
Er schloss die Augen.
Als er sie wieder öffnete, schwebte er schwerelos zwischen den Sternen.
Direkt vor sich sah er den roten Planeten Mars. Dahinter Jupiter. Während er sich langsam drehte, erkannte er auch die restlichen Himmelskörper des Sonnensystems.
Als er sich der Sonne zuwandte, wurde er mit so unbeschreiblicher Freude und Liebe konfrontiert, dass er glaubte, vor Glück zerspringen zu müssen.
Irgendwo, im hintersten Winkel seines Verstandes bemerkte er, dass er die Erde noch nicht erspäht hatte. Nach einigen Augenblicken der Verwunderung ging ihm ein Licht auf.
Natürlich hatte er seinen Heimatplaneten noch nicht entdeckt, denn dieser war kein Fremdkörper. Er war die Erde!
Er lachte laut auf, und das Universum lachte zurück.
Die Sterne schienen ihm etwas zuzurufen, aber vielleicht war es auch eine eigene Erkenntnis.
„Du gehörst zu uns! Auch du kannst strahlen!“
Und das tat er, er strahlte, leuchtete, glitzerte und glänzte in so vielen Farben, dass ein Regenbogen vor Neid erblasst wäre.
Der Kosmos strahlte zurück.
Er verlor sich inmitten der Sterne.
Jahrmillionen vergingen.
Er dachte an nichts.
Ein einzelnes Wort schmuggelte sich in seinen leeren Verstand:
Unendlichkeit.
Der letzte Stern erreichte den Boden der Glaskugel.
Sebastian Baumann blickte verständnislos auf das außergewöhnliche Geschenk. Irgendwie hatte er das Gefühl etwas Wichtiges, etwas das ihm erst vor wenigen Sekunden passiert war, vergessen zu haben. Doch das war natürlich unmöglich.
Immerhin hatte er ja gerade erst seine Pakete ausgepackt. Davor hatten sie gegessen. Ihm konnte kein wichtiges Ereignis entfallen sein, alles war verlaufen wie immer. Völlig normal.
Normal...
Das Wort schmeckte schal auf seiner gedanklichen Zunge.
Warum hatte er immer genau wie jeder andere sein wollen?
Was war so erstrebenswert daran, gewöhnlich zu sein?
Sebastian beschloss, sein Leben von Grund auf zu ändern.
Evas Stimme unterbrach seine Gedanken: „Hey Schatz! Ist alles in Ordnung mit dir? Du starrst jetzt bestimmt schon eine Minute auf diese Schneekugel. Die ist aber auch wirklich schön. Zeig mal her.“
Er reichte seiner Frau den erbetenen Gegenstand und forderte sie auf: „Schüttele sie mal, der Effekt ist unglaublich.“

Seit diesem Weihnachten träumten Sebastian und Eva Baumann jede Nacht von den Sternen.


© 2016 Ananda-Mira Iruna Neuber