1. Kapitel:

DIE LEGENDE DES LAIBA-TALES

Die Morgendämmerung kündigte sich mit dem ersten purpurroten Schimmer am Horizont an. Geisterhaft schwebten noch einige Wolkenfetzen zwischen den hohen Berggipfeln. Es war völlig ruhig und windstill. Nur eine schwarze Bergdohle zog einen weiten Kreis um einen der Gipfel, einsam, als wenn sie sich um diese Tageszeit verirrt hätte. Ananda, so hieß die Dohle, war Frühaufsteherin. Es gab für sie nichts Schöneres, als aus ihrer luftigen Höhe die ersten Strahlen der aufgehenden Morgensonne zu beobachten. Einige Minuten später war es dann auch soweit: Ein blutroter, leuchtender Schimmer tauchte zwischen den Berggipfeln auf, ein Streifen, der schnell zur Halbkugel anschwoll. Schon nach wenigen Minuten stand die junge Sonne als flache Kugel über den Gipfeln und verbreitete strahlendes Licht, das bei seiner Wanderung schräg durch die Erdatmosphäre jene orange-rote Färbung annahm, die den Menschen zu allen Zeiten Kraft und Hoffnung gegeben hatte.

Ananda krächzte vor Freude über diesen Anblick. Sie hatte, wie alle Bergdohlen, eine sehr eindringliche Stimme, die den Menschen nicht immer gefiel, aber auf andere Vögel sehr anziehend wirkte. Und darauf kam es schließlich in der Vogelwelt an. Anandas Freudenschreie hallten von den umliegenden Bergen wieder und verkündeten dem stillen, friedlichen Tal den heraufziehenden Morgen. Die Fliegende blickte nun zum Boden hinunter, während sie weiter ihre Kreise durch den morgendlichen Himmel zog. Die Hälfte des Tales lag noch im Schatten, die andere Hälfte war ins Morgenlicht getaucht, das der erwachenden Natur die erste Wärme gab. Es war ein breites, liebliches Tal in einer entlegenen Bergkette, die heutzutage landschaftlich etwa an Österreich oder die Schweiz erinnern würde. Doch zu der Zeit, in der unsere Geschichte spielt, gab es diese Länder noch nicht, wohl aber Menschen, die genauso aussahen, wie wir in der heutigen Kultur. Damals - vor vielen Zeitaltern - lebten auf unserer Welt nämlich bereits Menschen mit ähnlichen Errungenschaften, wie wir sie heute haben, doch es war vieles ganz anders. Kein Wunder, denn diese Zeit liegt so lange zurück, daß man nicht einmal mehr in den Geschichtsbüchern etwas darüber finden kann. So vermag sich heute niemand mehr an dieses Tal irgendwo in irgendeiner Gebirgskette erinnern. Höchstens die ältesten Bergbauern jener Gegend wissen zumindest noch seinen Namen: Laiba, was in der damaligen Sprache etwa 'das Glückliche' bedeutete.

Mitten im Laiba-Tal lag das kleine Bergdorf Murr, in dem nur einige Bauern, Handwerker, Künstler und Händler wohnten. Die Murrer hatten bisher größtenteils ein friedliches Leben in ihrem Dorfe geführt, denn auf ihren Feldern wuchs alles, was sie zum Leben brauchten. Die lange Periode vordergründiger Harmonie wurde jedoch in letzter Zeit häufig gestört. Die Menschen begannen unzufrieden zu werden und sich über allerlei Zustände zu beklagen, denn die Natur läßt es selten zu, daß menschliche Lebensgemeinschaften erstarren (auch wenn sie noch so friedlich aufgebaut sind), denn dies trüge keinen Fortschritt in sich. Leben bedeutet jedoch stetige Fortentwicklung. Daher zerstören sich allzu festgefahrene Systeme stets von ganz alleine, weil sie an ihren eigenen Dogmen und Engstirnigkeiten erkranken. Doch über das Dorf Murr wird später noch ganz ausführlich berichtet werden.

Zunächst wollen wir jedoch wieder zurück zu Ananda, der glücklichen Dohle, die immer noch im Morgenhimmel kreiste und ihr Tal betrachtete, das inzwischen fast vollständig von warmen gelben Lichtstrahlen erfüllt wurde. Die schwarze Dohle blickte das Tal entlang und freute sich wie jeden Morgen über den bezaubernden Anblick. Warum war Ananda eigentlich immer glücklich? Ganz einfach: sie begehrte nichts als die Luft zum Fliegen und die Körner zum Fessen. Und dadurch unterschied sie sich ganz deutlich von vielen Bewohnern des Dorfes Murr, die in letzter Zeit immer mehr begehrten - und davon immer unglücklicher wurden.

Am oberen Ende des Tales lag, eingerahmt von malerischen Wäldern und weißen Kalkfelsen, der kristallklare Bergsee Brama, aus dem ein kleiner Bach fröhlich das Tal hinuntersprang. Zu beiden Seiten des Baches hatten die Murrer Felder angelegt, auf denen sie Getreide und Gemüse anbauten. Jetzt im Frühsommer waren schon überall die jungen Pflanzen zu sehen, die eine reiche Ernte im Herbst versprachen.

Gegen Süden öffnete sich das Tal und ging in eine weiche Hügellandschaft über, im Osten und Westen wurde es von mittelhohen Bergen eingerahmt, die auch einen guten Schutz gegen Stürme boten. Diese Berge waren nicht höher als ungefähr 1500 Meter, daher waren sie bis fast an den Gipfel bewaldet. Nur die letzten hundert Meter gingen die Wälder in Sträucher und Gras über. Gegen Norden wurde das Tal enger und strebte direkt auf den kleinen See zu, der das eigentliche Laiba-Tal abschloß. Hinter dem See begannen die Geheimnisvollen Wälder, die sich langsam in einem Hochgebirge namens KAILASH verloren. Die Dorfbewohner gingen selten in die Geheimnisvollen Wälder, denn es ereigneten sich darin seltsame Dinge, die sich die Murrer nicht recht erklären konnten. Alles Unerklärbare versetzte die Menschen damals in Angst und Schrecken, und so kamen die Murrer höchstens bis zum See, um zu angeln oder zu baden. Nur besonders furchtlose Leute wagten sich in die dahinterliegenden Wälder, und diese konnten meistens von seltsamen, ja angsteinflößenden Geschehnissen berichten. Bis ins Hochgebirge, das sich im Norden anschloß, kam zu diesen Zeiten ganz ganz selten ein Wanderer, denn die Berge waren über 4000 Meter hoch, und die schroffen Gipfel waren schnee- und eisbedeckt. Die Sagen der Menschen berichteten von manchen großen Rätseln, die sich im KAILASH-Gebirge verbergen sollten, doch solange niemand die Gipfel des Hochgebirges erstiegen hatte, würden es wohl immer nur Sagen bleiben.

Ananda flog an diesem Morgen oft über die Geheimnisvollen Wälder, vor denen sie als Vogel natürlich keinerlei Angst hatte. Sie fühlte, daß sich dort oder beim See Brama in nächster Zeit etwas Bedeutsames ereignen werde. In diesen alten Zeiten hatten die Tiere noch ein ganz besonderes Gespür für außergewöhnliche Ereignisse, denn sie lebten in großer Harmonie mit der Natur. Ananda hatte nun eine gute Intuition für die Zukunft und deshalb wußte sie genau, daß schon bald in ihrem Heimattal Laiba ein Wesen geboren werden würde, welches in irgendeiner Weise etwas Neues in die Welt bringen würde, dadurch daß es einen Weg zu gehen hatte, den noch niemand zuvor gegangen war. Die Bergdohle kannte auch die uralte Legende des Laiba-Tals, die von der Geburt eines kleinen Fisches erzählte. Dieser Fisch sollte sich einst aus dem Wasser erheben und der ganzen Welt, besonders den Menschen, einen Weg zum dauerhaften Frieden zeigen, so hieß es. Oft hatte sich die Dohle gefragt, wie ein kleiner Fisch jemals so etwas bewirken könne, was die Menschen aus eigener Kraft anscheinend nicht vermochten, wenn man die Entwicklungen im Dorf Murr betrachtete. Nie war sie zu einem Ergebnis gekommen. Auch leben die Fische ja im Wasser und die Menschen an Land, überlegte der Vogel und konnte sich gar nicht vorstellen, wie ein Fisch überhaupt an Land gelangen sollte. Doch das Überlegen war nicht Anandas Stärke, und schon nach kurzer Zeit verflogen ihre diesbezüglichen Gedanken. Ihr Leben bestand aus den drei 'F's: Fliegen, Freude und Freiheit. Allzuviel theoretische Überlegungen waren in diesem Leben fehl am Platze ...

Heute, an diesem sonnigen Tag, beschloß sie, einmal zu Marco zu fliegen und ihm um Rat zu fragen. Vielleicht hatte Marco eine ähnliche innere Vorahnung? Vielleicht wußte er mehr über die ganze Legende, die sich um den kleinen Fisch rankte? Marco war eine uralte knorrige Eiche, die fast so alt war, wie das Laiba-Tal selbst. Sie stand am vorderen Teil des Sees Brama, wo der Bach aus ihm heraussprudelte. Als Ananda am Seeufer landete, nahm sie erst einmal ein kleines Bad, um ihre Flügel zu putzen, dann stolzierte sie hinüber zu Marco. Die Eiche war fast zwanzig Meter hoch und bot einen gewaltigen Anblick. Mächtige Äste verzweigten sich bis in die höchste Baumkrone hinauf. Jetzt, Anfang Sommer, war sie mit vielen hellgrünen Blättern geschmückt, im Herbst wurden ihre Blätter jedoch bunt, und überall zwischen den Zweigen hingen dann Eicheln, die herunterfielen und von den Eichhörnchen als Winternahrung gesammelt wurden. Von Marco ging ein beständiges Rauschen aus, wenn der Wind mit seinen tausenden von Blättern spielte. So war es auch jetzt, als Ananda vor seinem Stamm zwei alte Eichelkerne aufpickte und dann auf einen seiner Äste flog.

"Guten Morgen, Ananda", rauschte Marco, "du schaust heute etwas nachdenklich. Hast du etwas auf dem Herzen?" In einer solch alten Lebensgemeinschaft wie im Laiba-Tal, kannten sich natürlich alle Tiere und wichtigen Pflanzen untereinander und respektierten sich. Meistens konnten sie sich sogar miteinander verständigen; lediglich die Menschen verstanden ihre Sprache nicht.

Die Bergdohle, die nur selten hinunter ins Tal kam, krächzte: "Auch dir einen schönen Morgen, Marco. Ja, ich mache mir zur Zeit einige Gedanken über die alte Legende aus unserem Tal. Du weißt schon, die Geschichte mit dem kleinen Fisch, der uns allen, besonders den Menschen, etwas Neues bringen soll. Ich hatte heute früh nämlich so eine Ahnung, daß seine Geburt nun bald bevorstehe. Brama und die Geheimnisvollen Wälder warten gespannt auf irgendetwas. Das habe ich deutlich gespürt."

"Ja", antwortete Marco, "ich habe ebenfalls etwas gemerkt. Gestern erst habe ich mich mit Brama über diese Legende unterhalten. Der alte See meint, daß der kleine Fisch wohl in ihm geboren werden müßte, denn er sei der einzige See weit und breit. Auch glaubt er, daß die Ankunft der weisen Fee Atmia etwas damit zu tun haben könnte. Nun - der alte See wollte nicht viel darüber reden, weil er gerade mitten in Hochzeitsvorbereitungen für zwei seiner Fische steckt."

"Was, Atmia ist wieder hier?" freute sich Ananda und hüpfte einen Ast höher, "dann geschieht wirklich etwas ganz Besonderes, denn Atmia erscheint stets in dieser Gegend, wenn ihr Erscheinen dringend gebraucht wird."

Atmia war eine alte, herzensgute Fee, deren erstes Auftauchen sich in der Dunkelheit der Sage verlor. Sie kam immer dann ins Tal, wenn ihre besonderen Kräfte vonnöten waren. Vor 100 Jahren war sie sie das letzte Mal in Murr erschienen, als ein schreckliches Gewitter das halbe Dorf in Brand gesetzt hatte. Die Murrer konnten in dem Unwetter nicht schnell genug ihre Häuser löschen, und so flehten sie Gott um Hilfe an, denn sie waren damals alle sehr gläubig. Tatsächlich hatte der Himmel augenblicklich Atmia zu Hilfe geschickt, die das gewaltige Feuer mit Feenkraft zum Erlöschen brachte. Leider dachten heutzutage nicht mehr viele Murrer an dieses wundersame Ereignis, denn ihr Glauben an Gott und alle Kräfte des Himmels schwand mehr und mehr.

Marco zeigte seine Freude, indem er seine Blätter kräftig rauschen ließ, und meinte: "Robo, der Schmetterling, hat Atmia vorgestern in den Geheimnisvollen Wäldern bemerkt. Er war gestern zu Besuch bei mir und berichtete davon. Er sah sie mitten auf einer Lichtung knien und meditieren. Robo meinte, Atmia bereite sich auf eine wichtige Aufgabe vor. Aber es scheint kein Unglück zu geschehen, ganz im Gegenteil, denn sie wirkte gelöst und glücklich."
"Na dann werden wir ja in nächster Zeit einiges erleben", krächzte Ananda und hüpfte wieder auf einen anderen Ast, "vielleicht hat es wirklich etwas mit der Geburt des angekündigten Fisches zu tun. Na, ich werde mich noch ein wenig umhören, möglicherweise erfahre ich mehr. Machs gut, Marco, viel Sonne und Wasser wünsche ich dir." Die Bergdohle flog davon und erhob sich in den blauen Himmel. "Auf Wiedersehen, liebe Ananda!" raunte ihr Marco nach, dann beschäftigte er sich wieder mit seiner täglichen Arbeit. Er hatte an diesem Tag viele neue Wurzeln in den Waldboden zu treiben. Es wurde langsam Sommer und er wollte vor der großen Hitze viele kleine Wurzel-Höhlen schaffen, in denen sich die Regenwürmer vor der Trockenheit verstecken können.