1. Kapitel: Otto, der Einsiedler

Lustig sprangen die kleinen Kröten und jungen Frösche über die Wiese. Vor einigen Tagen erst hatten sie als Kaulquappen ihren Schwimm-Schwanz verloren, nun kletterten sie - einer nach dem anderen - aus dem nahen Teich und wagten ihre ersten Sprünge und Bewegungen an Land. Mitten in der Wiese auf einem kleinen Stein saß Otto, ein kräftiger Mann von unbestimmbarem Alter, und freute sich sehr über das Treiben der kleinen Tierchen, die er sogar züchtete und richtig umsorgte, wie ein Schäfer seine Schafe (Farbbild 1). Diese Angewohnheit hatte ihm den Namen "Kröten-Otto" eingebracht, und wenn die Bewohner des Bergdorfes Murr von "Kröten-Otto" sprachen, dann meist nur in recht abfälliger Weise, denn Otto war ein ziemlicher Einzelgänger, lebte als Einsiedler weit außerhalb von Murr, fast auf halbem Wege nach Brama, und versteckte sein Gesicht hinter einem dichten Vollbart, sodaß er schlecht einzuschätzen war. Auch wußte niemand so recht, woher Otto eigentlich kam (denn in Murr war er nicht geboren) und was er den ganzen Tag in seiner Einsiedelei überhaupt trieb. Nur daß er Amphibien züchtete, das war bekannt, weil er es einmal Herrn Samadi, dem Förster, bei einem Besuch erzählt hatte.

Da viele Murrer recht neugierig waren, schlichen sie manchmal um die Hütte von Otto herum und versuchten, ihn auszuspähen. Wenn Otto dies bemerkte, vertrieb er die Neugierigen gelegentlich, indem er mit erhobener Mistgabel und unter undefinierbaren Lauten lachend hinter ihnen herlief, was wiederum dazu beitrug, daß man ihn als schwachsinnig und gefährlich bezeichnete. Kurzum: Otto war der Sündenbock für alles Unerklärbare, was in Murr geschah. Wenn beispielsweise auf einem Hof ein Huhn verschwand, so sagte man dort einfach, der Kröten-Otto hätte es sich gestohlen - und damit war der Vorfall erklärt. Eigentlich wußte nur Herr Samadi, daß Otto in Wirklichkeit ein herzensguter Mensch war, den ein eigenartiges Schicksal in das Laiba-Tal verschlagen hatte, denn der Förster war hie und da bei Otto zu Besuch und half ihm beim Anlagen seiner Froschweiher.

Herr Samadi war ebenfals ein ganz besonderer Mensch: Er strahlte ständig Ruhe und Frieden aus und schien sich an allem, was auch geschah, freuen zu können. Man sah ihn ständig mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen, das jedoch nicht künstlich wirkte, sondern absolut echt. Es schien von einem tief empfundenen Glück auszugehen, das der Förster in sich trug. Er redete nicht viel, doch wenn er etwas sagte, dann waren es Worte von großer innerer Tiefe. Als er einmal auf seine ständige Zufriedeheit angesprochen wurde, da meinte er schlicht: "Nun, ich bin eben mit meinen Wäldern völlig eins geworden. Sind Wälder etwa unzufrieden?"

Herr Samadi bewohnte mit seiner Frau ein kleines Häuschen am nördlichen Dorfrand von Murr und kümmerte sich um den Zustand aller Wälder im Laiba-Tal. Es hieß, er sei auch schon mehrmals weit in die "Geheimnisvollen Wälder" im Norden von Laiba, noch hinter dem See Brama, vorgedrungen. Doch darüber schwieg Herr Samadi beharrlich, wenn er daraufhin angesprochen wurde. Er war in Murr auch sehr beliebt und wurde mit seiner Frau oft zu Rate gezogen, wenn es Schwierigkeiten zu lösen gab, denn er wußte manchen hilfreichen Rat, der zu Anfang etwas seltsam erschien, sich später jedoch stets als äußerst wertvoll erwies. Nur ein einziges Mal wurde Herr Samadi bisher mit ernster Miene gesehen: Als er den Bürgermeister von Murr, Herrn Pratz, wegen dem Müllplatz beim See Brama ansprach und forderte, dieser müsse sofort verschwinden. Es war in Murr nichts über das Ergebnis dieser Unterredung bekannt - und den meisten Murrern war es auch egal - doch war zu spüren, daß zwischen Herrn Pratz und Herrn Samadi eine Spannung herrschte, die noch nicht glöst war.