3. Kapitel:

Der Waffenschmied

Die Wanderung durch den dichten Urwald kam Flossi bei weitem nicht so unheimlich vor wie tags zuvor. Da viele Tierstimmen diesen Teil der Wälder erfüllten, lag nicht mehr diese drückende Stille in der Luft. Auch wurde es immer heller, denn die Wolkendecke öffnete sich zusehends, sodaß Sonnenlicht durch die Bäume dringen konnte.
Nachdem Flossi etwa eine Stunde gelaufen war, wurde der Schnee plötzlich weniger, und innerhalb von ungefähr 200 Metern war er völlig verschwunden. Flossi traute seinen Augen nicht, als er bald darauf in eine richtige blühende Frühlingslandschaft geriet, voller Blumenwiesen auf den inzwischen zahlreichen Waldlichtungen.

Im Laufe von wenigen hundert Metern hatten die Geheimnisvollen Wälder wieder einmal total ihr Gesicht verändert. Diese warme, liebliche Blumenlandschaft wirkte lichtdurchflutet und fröhlich, überhaupt nicht mehr düster und mystisch. Die Hügel und dichtstehenden Bäume, die bisher die Gegend geprägt hatten, gingen in ein weites, offenes Flachland über, wo sich allerlei lustige Tierchen in den Blumenwiesen tummelten.
Unser Wanderer konnte hier frohgelaunt Geschöpfe beobachten, die ihm so fremdartig erschienen, daß er manchmal glaubte, sie könnten gar nicht von diesem Planeten stammen.
Da sprangen kleine Pferdchen über die Wiesen, die im Sprung mit Flügeln schlugen, welche sie auf dem Rücken trugen. So ähnlich wie 'Fliegende Fische' konnten sie daher sehr weite Sprünge unternehmen.
Fliegen, die aussahen wie winzige Schweinchen, flogen durch die Luft. Wenn man genau hinhörte, dann gaben sie sogar ein Art Grunzen von sich. Manche Blumen mit großen Blütenständen wurden von ganzen Schwärmen dieser 'Schweine-Fliegen' besucht, sodaß sich ihre Kelche unter der Last tief beugten.
Auf kleinen, ausgetretenen Pfaden marschierten - wie im Gänsemarsch - ganze Grüppchen von Farnen auf grünen Blätter-Füßen daher. Diese laufenden Pflanzen hatten sogar sehr ausdruckstarke Gesichter, von denen jedes eine andere Stimmung zeigte.
Ein recht großer Tausendfüßer wälzte sich schnaufend durch's hohe Gras. Er hatte an jeder Seite etwa 20 Elefanten-Ohren befestigt, die seinem angestrengten Körper ständig Luft zufächelten.
Mitten auf Flossis Weg (er benutzte inzwischen eine Art Trampelpfad, der genau nach Nordosten führte) lag ein ganz absonder-liches Wesen: Eine Schlange mit sieben Köpfen. Jedoch trug sie ihre Köpfe nicht an sieben Hälsen (etwa an der Stelle, an der andere Schlangen einen einzigen Kopf besitzen ...), nein - die Köpfe waren kreisförmig um ihren Leib herum angeordnet, sodaß die Schlange aussah wie ein Seestern. Jeder dieser Köpfe schien die 'Befehls-Gewalt' über die ganze Schlange übernehmen zu wollen, was natürlich nie klappte. Daher waren sie sich ständig uneinig, in welche Richtung sie überhaupt kriechen wollten und kamen auf diese Weise überhaupt nicht vom Fleck, denn jeder 'Schlangenteil' wollte in eine andere Richtung.

Flossis Weg führte schnurstracks durch diese wunderbar fröhliche und mit Naturwundern angefüllte Wiesen- und Felder-Gegend, sodaß er immer wieder stehenblieb, um sich all die lustigen Tierchen genau anzusehen. Ja, er blieb fast schon zu oft stehen, wäre manchmal am liebsten gar nicht weitergegangen, so sehr zogen ihn die lustigen Szenen an, die er hier zu Gesicht bekam.
Je mehr sich Flossi über diese Dinge freute, desto mehr versuchten sie ihn auch zu halten, ja fast schon magisch zu beeinflussen. Mit einem Mal blieb er wie angewurzelt stehen.
Da - ein ganzes Wegstück vor ihm - da stand doch eine Gestalt mitten auf dem Pfad.
Eine menschliche Gestalt!
Vorsichtig ging Flossi auf die Gestalt zu, die sich beim Näherkommen als eine recht lieblich aussehende Frau entpuppte, welche jedoch fast vollständig in schwarze Gewänder gehüllt war. Er war auf der Hut. Konnte es nicht sein, daß GORR sich in diese schwarze Frau verwandelt hatte, um ihn zu täuschen? Schwarz war stets die Farbe der Düsternis und des Bösen, das wußte Flossi aus seinen Murrer Erfahrungen, wo sich die streitsüchtigsten Leute meist in sehr dunklen Kleidern versteckt hatten. Doch diese Gestalt lächelte so süß, daß Flossi seinen Argwohn unterdrückte und freundlich näher kam. Er wurde zu seinem Erstaunen mit weicher Stimme begrüßt: "Ich wünsche dir einen angenehmen Tag, lieber Flossi, ich bin deine Führerin in diesen Wäldern, mein Name ist 'Dunkle Prinzessin', man hat mich dir zur Verfügung gestellt."
Flossi war selten sprachlos, doch jetzt vergingen wirklich ein paar Sekunden, bis er antworten konnte, so verdutzt war er. "Grüß Gott, liebe Prinzessin" gab er zurück, "woher kennst du mich denn? Und wer hat dich mir als Führer geschickt?" Wenn Flossi jetzt sehr aufmerksam gewesen wäre, dann hätte er ein leichtes Zusammenzucken der Prinzessin gemerkt, als der Name GOTT in seinem Gruße fiel.
Er war jedoch immer noch verwundert über die Situation, wodurch seine Konzentration geschwächt war. Die angenehme Mädchenstimme erklang nun wieder: "Wer du bist, das weiß doch schon jeder in unseren Wäldern. Uns sind deine Taten nicht verborgen geblieben. Und wer mich geschickt hat? Nun gewissermaßen die Wälder selbst, die dir bei deinen Aufgaben beistehen wollen."
Obwohl er innerlich spürte, daß die Schwarzgekleidete nicht die Wahrheit gesprochen hatte, antwortete Flossi: "Na, dann laß uns zusammen ein wenig weitergehen. Mein nächstes Ziel ist das Haus des Waffenschmiedes. Erzähle mir doch bitte ein wenig über dich, Prinzessin. Wo kommst du her? Was sind deine Aufgaben?"
Hatte unser Abenteurer erwartet, jetzt so manch Wissenswertes über die Geheimnisvollen Wälder zu erfahren, so wurde er ziemlich enttäuscht. Die Dunkle Prinzessin kam ihm vor, wie die Murrer Dorf-Politiker, damals kurz vor der Wahl: Viel reden, doch nichts aussagen. Die Prinzessin wußte weder über das Niemandsland, noch über Meister Skruntsch, den Waffenschmied, oder über irgendwelche Gegenden der Urwälder etwas Interessantes auszusagen. Was sie erzählte, das war sehr banal, sodaß die Informationen, die Flossi von Kröten-Otto und Herrn Samadi erhalten hatte, schon viel umfangreicher waren. Als sie einmal an zwei ganz besonders lustig spielenden Tierchen vorbeikamen, äußerte Flossi ganz begeistert: "Sieh nur, Prinzessin, welch ungeheure Vielfalt in dieser Natur liegt. Es ist doch wie ein Wunder, daß sich unser Schöpfer, der EINE, in so einer Vielfalt offenbaren kann!" Darauf brummelte die Prinzessin kaum verständlich: "Schöpfer ... Quatsch ... die Tiere sind ein Produkt unseres Waldes!"
Flossi kam gar nicht erst dazu, hierauf zu antworten, denn schon sprach die Dunkle Prinzessin weiter, jetzt jedoch klar und deutlich:
"Wenn du Lust hast, dann können wir ja hier ein paar Tage Rast machen, die schönen Tiere beobachten und uns einfach nur wohlfühlen. Es ist nicht so wichtig für uns, zu Meister Skruntsch zu gelangen, er hat sowieso dauernd recht viel zu tun. Wer weiß, ob er uns überhaupt helfen kann."
Seine Verblüffung hatte Flossi vorher noch vor Argwohn bewahrt. Jetzt fielen ihm eine ganze Menge seltsamer Beobachtungen auf. Irgendetwas stimmte nicht mit der Prinzessin. Daß sie GORR in einer Maske sei, das zog er schon gar nicht mehr in Erwägung, zu schwächlich und süß erschien sie ihm. Ja, sie erschien ihm viel zu süß, schon fast unterwürfig (sagte sie aber nicht, sie wolle eine Führerin sein ...?), als sie ihm mit weichem Lächeln vorgeschlagen hatte, einige Zeit hier zu bleiben. Die Situation erinnerte ihn an seinen Aufenthalt bei Roland Silberstein in Murr, als er sich von dessen äußerem Reichtum hatte einlullen lassen. Sollte er hier ebenfalls verführt werden? Von seiner Aufgabe abgehalten werden?
Auch hatte er nach dem Verlassen des Niemandslandes genau gespürt, daß er möglichst rasch zu Waffenschmied 'Meister Skruntsch' gelangen müßte, während die Dunkle das Gegenteil behauptet hatte.
Schließlich waren ihm noch die langen, neidischen Blicke aufgefallen, die seine neue Begleiterin auf den Niemands-Stab warf, den Flossi unbekümmert zum Wandern benutzte.
Einmal ganz zu schweigen von ihrer eigenartigen Äußerung, als er auf den Schöpfer und die Schöpfung zu sprechen gekommen war.
Flossi antwortete nach einigem Zögern endlich auf die gestellte Frage: "Ich glaube, ich werde mir die Tiere einmal ganz allein und in Ruhe ansehen, wenn ich meinen Auftrag hier erfüllt habe. Ich möchte nämlich so rasch wie möglich zu Meister Skruntsch gelangen. Und es handelt sich hierbei auch um meine Aufgabe, nicht um unsere, um es einmal klargestellt zu haben.
Was ich dich übrigens schon die ganze Zeit fragen wollte: Wieso kleidest du dich schwarz, bezeichnest dich als dunkel und warum bist du eigentlich Prinzessin?"
Die schwarzgekleidete Frau, die bisher ständig lächelnd ihre vermeint-liche 'Führungsrolle' gespielt hatte, verzog nun ihr Puppengesicht zu einer hämisch grinsenden Fratze und sagte in zischendem Tonfall: "Schwarz ist die Farbe der dunklen Macht, der Macht des Funkelnden Schlosses, von dem ich Prinzessin bin." Ihre Stimme bekam einen richtig drohenden Klang, als sie fortfuhr: "Du hältst dich wohl für besonders schlau, mit deinen Sprüchen über die Schöpfung. Doch was weißt du schon darüber. Die Welt wird von der Vergänglichkeit regiert, dazu von der Macht des jeweils Stärkeren. Wenn du das nicht wahrhaben willst und ständig solchen Quatsch von Gott und Ewigkeit erzählst, dann bist du ein blinder Spinner.
Du glaubst vielleicht, ohne meine Führung durch diese Wälder zu kommen? Du kleiner Wicht hast überhaupt keine Ahnung, welch scheußliche Gefahren hier lauern - und alle warten sie nur darauf, dich aufzuhalten. GORR willst du besiegen? Daß ich nicht lache!
Laß dir ein für allemal gesagt sein: GORR kann nicht besiegt werden! Er ist unbesiegbar!
Und glaube mir, mein Lieber, ohne mich wird dein Weg sowieso bald zu Ende sein. Spätestens im Funkelnden Schloß, dessen Herrin ich bin. Du suchst doch auch die KRONE der Wälder, oder? Nun, sie befindet sich in meinem Schloß. Mal sehen, ob du dann meine Führung und Anwesenheit immer noch so selbstherrlich ablehnst, wenn du jemals dort erscheinen solltest!
Und jetzt gehe weiter; schau nicht so nachdenklich, bist wohl auch einer dieser Zauderer, die keine klaren Entscheidungen fällen können. Unsere Wege werden sich jetzt trennen, doch wir werden uns bald wiedersehen."
Die Dunkle bog einfach vom Weg ab und ging seitwärts in die Felder, wo Flossi sie schon kurze Zeit später aus den Augen verlor.

Grußlos hatten sie sich getrennt, das verhieß nichts Gutes.
Während Flossi langsam weiterwanderte, mußte er sich eingestehen, daß er selten in seinem Leben so sehr verunsichert worden war, wie durch die Dunkle Prinzessin. Ihre lügenhafte Ausstrahlung, ihre ständig wechselnde Stimmung und ihre provozierenden Reden hatten Zweifel in ihm entstehen lassen. Zweifel an seinem Auftrag, ja sogar Zweifel an seinem Weltbild, das er stets als gefestigt betrachtet hatte. Die Dunkle hatte ihn in ein Wechselbad von niedrigen Emotionen gehüllt, mußte er erkennen. Zuerst hatte sie diese über-süße und verführende Ader gezeigt und hatte sich selbst als seine Führerin bezeichnet (sogar im Auftrag dieses Waldes), obwohl sich rasch herausgestellt hatte, daß sie nicht die geringsten Kenntnisse von den Geheimnisvollen Wäldern vorzuweisen hatte. Dann hatte sie plötzlich ihre Maske gewechselt und ihn mit hämisch-verzerrtem Grinsen richtiggehend beschimpft, sogar als Spinner bezeichnet. Was mochte hier dahinterstecken? Welche Rolle spielte sie in diesem ganzen Szenario? Welche Ziele verfolgte sie oder ihr eventueller Auftraggeber? Wer war diese schwarze Frau in Wirklichkeit?
Er war sich sicher, daß er hierauf zu gegebener Zeit eine Antwort finden würde. Vielleicht war die Dunkle einfach nur ein Teil der Geheimnisvollen Wälder, eben jener Teil, der Verführung und Zweifel in sich trug. Er beschloß, noch wachsamer zu sein als bisher, nahm sich aber auch vor, das Funkelnde Schloß ausgiebig zu untersuchen, besonders wenn sich dort wirklich die KRONE befinden sollte. Dies war vielleicht der einzig brauchbare Hinweis gewesen, den ihm die Prinzes-sin geben konnte. Oder war das auch nur wieder ein Trick?

Inzwischen war es später Nachmittag geworden. Flossi hatte einige kleine Pausen gemacht, wobei er sich auch viele Gemüsepflanzen hatte schmecken lassen, die hier wild wuchsen und die in rohem Zustand ausgesprochen gut mundeten. Der Frühlings-Charakter der Landschaft war ständig erhalten geblieben, nur wurde es wieder etwas hügliger, später sogar ziemlich bergig, was sein Wandertempo jedoch kaum einschränkte.
Er erwartete, daß jeden Augenblick sein heutiges Ziel hinter einem Hügel auftauchen könnte: Die Waffenschmiede von Meister Skruntsch.
Da waren ganz weit in der Ferne plötzlich dumpf dröhnende, stampfende Geräusche zu hören, dazu ein unheimliches Geräusch, das sich zunächst wie das leise Fauchen einer erkälteten Wildkatze anhörte, dann jedoch immer lauter wurde und rasch zu einem urtümlichen Gebrüll anwuchs.
Das Stampfen klang nun schon wie der Donner eines berstenden Berges und wurde immer noch lauter.

Schließlich sah Flossi die Ursache.
Er hatte in seinem abwechslungsreichen Leben bisher in den seltensten Fällen Angst gehabt, doch was er jetzt sah, das ließ ihm das Mark in den Knochen gefrieren: Ein riesiges schauderhaftes Ungetüm, doppelt so groß wie ein Baum, mit einem Gesicht, so grausam, daß ihm allein dieser Anblick den Atem nahm, mit einem Leib, der nur aus verkörperter Zerstörung zu bestehen schien, stampfte direkt auf ihn zu und mußte ihn in spätestens einer Minute erreicht haben.
"Das ist GORR" schoß es Flossi durch den Kopf, und gleichzeitig wußte er, daß er GORR momentan tatsächlich nicht besiegen konnte. Wie auch, er hatte ja noch keine einzige Waffe gefunden.
"Doch, ich habe den Niemands-Stab" erinnerte er sich in höchster Not. Anstatt kopflos zu fliehen (GORR hätte ihn sowieso eingeholt), siegte nun die Vernunft über die beginnende Panik. "Dieser Stab macht jeden, der ihn mit der Brust berührt, zum NIEMAND" erinnerte sich Flossi nun an die Worte von Nimm, dem Nimmerling, lehnte sich an einen Baum, drückte den Niemands-Stab gegen seine Brust und verhielt sich völlig still.