9. Kapitel
Armageddon

...je weiter wir in der Evolution vorangehen und die dichten Schichten entrümpeln und klären, desto mehr rückt das Ewige "dort" in die Nähe unseres Bewusstseins - zuerst in unseren Träumen, unseren Visionen, dann in unserer Phantasie, unseren Gedanken, unseren Gefühlen - bis es endlich mit unserer Materie und unserem Körper übereinstimmt; dann wird das Wesen dort zum Wesen hier, und die beiden werden eins, die nie aufgehört hatten, eins zu sein. All unser Elend und unsere Aspiration sind nur das erste Flüstern dieses vergessenen Einen, das sich im vergesslichen anderen wieder seiner selbst erinnert. Wir streben nach dem, was da ist, denn nach was sonst sollen wir streben? Der Schlamm strebt nicht nach Schlamm, und wenn er sich zum Licht und zum Lotos im Licht verwandelt, so deshalb, weil das Licht seit jeher da war und der Lotos ewig in der Tiefe seiner dunklen Saat leuchtete ...

(Satprem: 'Der göttliche Materialismus', Verlag Hinder & Deelmann)
***
Als ich diese Worte gesprochen habe, ist es, als ob sich alle Eindrücke des Friedens-Tempels nun ballen und vereinen würden. In mir selbst.
Ich werde zum Tempel des Friedens.
Allein, vollends der momentanen Situation bewusst schwebe ich in einer realistischen Unendlichkeits-Weite, in der sich nur blass die Sterne des Weltalls wie unwirkliche Fünkchen abzeichnen.
Da ist kein strahlendes Licht mehr, schweben keine Lebendigkeiten mehr umher, da ist kein goldenes Tor mehr und keine wohlwollende Stimme eines Hüters.
Da ist nur die Nacht-Schwärze des Alls. Die Hintergrund-Finsternis, die verdeutlicht, dass der momentane Ablauf des Kräftespiels von einer Wesenheit namens 'Schwarze Sonne' dominiert wird.

War ich schon in der Trümmerwüste nach dem Einsturz des Magischen Tors einsam, so bin ich jetzt wohl das allein gelassenste Wesen des ganzen Kosmos.

Da schwebe ich in der Schwärze des Alls und sehe sie ankommen, die sechs Heere der Dämonen. Von allen Seiten, von links und rechts, von oben und unten, von hinten und vorne. Es gibt kein Entkommen mehr. Kein Tor kann mich retten. Ich habe es ja selbst so gewollt. Sie kommen näher und näher. Ich sehe die entsetzlichen Körper, die glühenden, teuflischen Fratzen, die böse funkelnden Augen der sechs Heerführer. Sodon selbst reitet auf einem überdimensionalen schwarzen Pferd dem von vorn angreifenden Heer voran. Er wirkt nicht mehr verblendend schön, seine ganze Wesenheit strahlt nur noch Destruktivität und Hass aus. Wie kann etwas nur derart hässlich sein, selbst wenn es sich um den Fürsten der Hölle handelt ...?

Nahe sind sie schon, erschreckend nahe. Viel zu schnell nähern sie sich. Doch ich kann sowieso nichts tun. Ich balle die Faust auf dem Herzen, konzentriere mich. Das Lichtschwert erscheint tatsächlich. Doch sein Licht reicht nicht aus gegen diese Heerscharen, die alles jemals hervorgebrachte Böse zu verkörpern scheinen.

Die Zeit, sie vergeht so schnell! Ohrenbetäubendes Gröhlen, berstende Geräusche, wie beständig explodierende Bomben, schreckliche Dissonanzen. Dann bin ich vollständig umringt. Geifernde gierige Vampire, eklige Dämonen, Hexen-Fratzen, quabbelige Quallenwesen, alles drängt sich kugelförmig um mich. Sodon selbst hat sich wie eine Manifestation des Hasses unmittelbar vor mir aufgebaut. Sieht mich mit bohrendem Blick an, brüllt: "Dies sind die letzten Momente deines jämmerlichen Lebens, Sklave des Lichts."

Doch statt mich nun zu zermalmen, wird es gänzlich still. Das ohrenbetäubende Dröhnen lässt nach. Unheimlich still wird es. 'Über' der ganzen Szene erscheint etwas. Ein über-kosmischer, leuchtend Schwarzer Thron, auf dem eine Gestalt sitzt. Ich erkenne: Es ist die Schwarze Sonne in Form der Madonna, wie ich sie bereits einmal angetroffen habe. Nun bin ich wirklich verloren!

Ein gewaltiger psychischer Druck geht von der Gestalt auf dem schwarzen Thron aus, welche - erhaben 'über' den Armeen der Nacht sitzend - mit starrem, toten Blick auf mich herabsieht. Die Dämonenscharen und Sodon selbst rücken nicht mehr weiter vor, verharren nahezu bewegungslos, als ob das Erscheinen der Schwarzen Sonne selbst ihnen eisigen Schrecken einflößen würde. Da ist nun alle Dunkelheitsmacht des Universums um mich herum versammelt. Zu schrecklich, um überhaupt noch Angst empfinden zu können. Das Ende ist nahe ..., es ist still ..., die Ruhe vor dem letzten vernichtenden Schlag.

'Glaube, vertraue und glaube, Glaube versetzt Berge ...', flüstert etwas in mir.

Eine scharfe, eisige Stimme kommt von der dunklen Madonna mit den ausdruckslosen Augen des Todes: "So sehen wir uns also wieder, kleines Erden-Würmchen, das du glaubtest, in Neugierde deine Fühler nach den Geheimnissen des Kosmos ausstrecken zu können. Deine letzte Stunde ist nahe. Die Endlösung der Menschheits-Frage ist nahe. Dies ist die Stunde der Finsternis!"

Mit übermenschlicher Anstrengung gelingt es mir, dem zermürbenden psychischen Druck zu widerstehen und eine Antwort zu formulieren, die - schwächlich wie eine Taschenlampe in der Weite des Alls - der Schwarzen Sonne einen letzten Widerstand gibt: "Ich suche nicht aus Neugier nach irgendwelchen Geheimnissen, denn ich bin nicht gierig nach Neuem, sondern ich sehne mich nach etwas Neuem, das schon in Bälde erblühen wird. Ich sehne mich nach der Herrlichkeit des himmlischen Glanzes, sehne mich nach den Weiten der Unsterblichkeit und der Erfüllung des Menschen. Deshalb bin ich hier. Und deshalb werde ich auch nicht scheitern!"

Den letzten Satz habe ich sehr bestimmt gesprochen. Augenblicklich fühle ich mich etwas stärker, der Finsternis nicht mehr so gänzlich ausgeliefert. Schmatzendes, glucksendes Gelächter der Dämonen-Horden wabert kurz durch die Finsternis, verstummt augenblicklich, als die Schwarze Sonne weiterspricht: "Es gibt keine Herrlichkeit hier. Und wenn es je einen himmlischen Glanz gegeben hat, so liegt dieser versperrt für alle Zeiten hinter der Schwelle, hinter jenem goldenen Tor, durch das du nicht hindurchgehen wolltest. Es gibt keine Unsterblichkeit außer dem Ewigkeits-Frieden der Nacht in meiner totalen Auslöschung. Es gibt keine Erfüllung des Menschen, außer den kleinen Freuden, die mein Statthalter Sodon immer wieder zuteilt, die kleinen Begierden, die kleinen Wunscherfüllungen, das, was euch gebrechlichen Menschenwesen zusteht."

Mit glühenden Augen starrt mich Sodon auf seinem hässlichen Pferd an, fügt hinzu: "Diesem hier teile ich nichts mehr zu, dunkle Gebieterin, dieser hat alles verwirkt, was das Leben ihm geboten hätte. Er hat meine Pläne zerstört, die die Endlösung bereits jetzt vollzogen hätten. Ich werde diesen Menschen mit meinen Heerscharen vernichten, stellvertretend für all die Verwerflichkeiten, die das Gezücht um Ailon herum uns bereits angetan hat. In dir, o Mutter der Finsternis, wird er seine letzte Ruhe finden." Ich erhebe wiederum meine Stimme, die nun stärker ist als eine Taschenlampe, deutlicher, sicherer: "Ich habe die Herrlichkeit erblickt und habe darin geschwebt. Du kannst mich nicht mehr täuschen. Ihr alle könnt mich nicht mehr blenden mit euren Lügen, euren leeren Versprechungen und euren falschen Vorgaukelungen eines angeblich richtigen Lebens in Begierden, Ängsten und Ego-Wünschen. Ich habe die Freude der All-Einen Gottheit durch mich pulsieren gefühlt und die Vision des kosmischen Grals in Händen gehalten. Dies waren unabänderliche Realitäten, die mir keiner mehr nehmen kann. Hebt euch hinweg, all ihr Verblender und Lügner! Dies ist die Stunde des Lichts." Sodon reitet hasserfüllt auf mich zu, wollte seinen dunklen Heerführern das Signal zum Angriff geben, doch die Madonna auf dem überkosmischen Thron hebt ihre Hand. Die dunklen Scharen halten noch einmal inne. Die Stimme des Todes erklingt von neuem: "Du bezeichnest mich und meinen Statthalter als Lügner und Verblender, sprichst aber selbst lediglich von Visionen, die du hattest. Das Universum ist jedoch real, du Erdenwurm. Und es ist schwarz! Die Festigkeit der Erde ist die Materie-Trägheit. Dort gibt es keine weiteren Freuden, außer denen, die euch gestattet werden. Alles andere ist irreal. Visionen, Träume, Vorstellungen von Frieden und Glück, das war es schon immer, was ihr Erden-Würmer euch an Halluzinationen vorgegaukelt habt, wenn ihr nicht imstand wart, ein normales Leben auf der Erde zu führen. Du sagst, du hast eine Vision in Händen gehalten. Dann zeige sie mir doch, deine Vision! Lass dein Hirngespinst doch Wirklichkeit werden, hier vor meinen Augen. Dann will ich dir glauben und mich zurückziehen. Dann will ich zugeben, dass auf der Erde nicht nur schwächliche Würmer leben. Doch leider können sich Einbildungen nicht materialisieren, du Dummkopf. Es sind chemische Reaktionen in deinem Gehirn und verworrene, energetische Bewusstseins-Zustände, die versponnenen Wünschen und religiösem Fanatismus entsprungen sind. Zeige mir deinen Gral, du Narr, dann ist für dich Armageddon kampflos vorüber. Zeige ihn rasch, sonst wirst du vernichtet werden."

Doch ich bleibe ruhig und still, lasse mich nicht beeindrucken, wundere mich nur, woher plötzlich die Festigkeit kommt, diesen Disput zu führen. Meine Antwort schneidet sich durch die Finsternis: "Schwarze Sonne, du sprichst wie jemand, der es nicht besser weiß. Zugegeben, auf Erden leben noch viele Menschen, die sich in ihren Wünschen und Begierden verstrickt haben, weil Sodons Machenschaften sie nie zu den Geheimnissen ihres Herzens vordringen ließen. So hören sie zwar den Ruf ihrer Seele tief im Innern ihres Bewusstseins, doch konnten sie noch nicht zu diesem leuchtenden Funken vorstoßen. Doch ich weiß, dass ganz tief innen die göttliche Erfüllung wartet. Innerhalb der Materie, wohlversteckt, innerhalb eines jeden menschlichen Bewusstseins. Und dieser Funke an Licht, dieses Flämmchen an Ewigkeits-Bewusstheit wird hervorbrechen, wenn die Kerker-Mauern, die Sodon äonenlang gezimmert hat, einst zerbrechen werden. Das, Schwarze Madonna, ist die Endlösung der Menschheits-Frage. Wir werden dastehen als eine von der Knechtschaft der Vergänglichkeit erlöste Menschheit. Wir Menschen werden den Kosmos erhellen und deine scheinbare Finsternis vertreiben, denn keine Dunkelheit kann bestehen, wenn das Licht sich ausbreitet. Das müsste sogar dir bekannt sein." Die Schwarze Sonne geht nicht auf meine Worte ein. Nun wird ihre Stimme drohend: "Zeig mir deinen angeblichen Gral. Sonst wirst du vernichtet ..."

Ich weiß nicht, was ich tun soll.
Woher soll ich den Gral nehmen?
Ich fühle mich nackt, unendlich nackt, allein, völlig allein gelassen.
Da gibt die Schwarze Sonne ihrem Diener Sodon einen Wink. Dieser stößt einen durchdringenden Schrei aus, zieht ein leuchtend schwarzes Schwert und reitet durch die Nacht des Alls auf mich zu. Die Dämonenheere kommen von allen Seiten wieder näher.
Die Kugel der Vernichtung, die mich einhüllt, wird enger.
Alles scheint endgültig verloren.