6. Kapitel:
Hilfe-Möglichkeiten für Abhängige

Kommen wir nun zu einem besonders wichtigen Abschnitt dieser Bro-schüre, zur Frage der Hilfeleistung.

Jeder Angehörige oder Freund eines Süchtigen sieht sich zuerst mal der schrecklichen Tatsache gegenüber, daß er eigentlich überhaupt keine Hilfe leisten kann:
Der Süchtige gleitet vor den Augen des Freundes immer tiefer in die Sucht.
Er lehnt jedes gut gemeinte Gespräch ab, reagiert aggressiv, wenn er auf seine Sucht angesprochen wird und stellt den Freund oder Angehörigen sogar als Spießer dar, der "keine Ahnung" hat und sich gefälligst nicht einmischen soll. Sprüche wie: "Das geht dich überhaupt nichts an. Das ist mein Leben - und da kann ich machen, was ich will ..." oder "Du trinkst doch viel mehr als ich ..." bauen von vorn herein dicke Mauern auf, die der potentielle Helfer kaum über-winden kann.
Lügen und Selbstbetrug nehmen somit überhand. In die verzerrte Realität des Betroffenen kann der Helfer nicht mehr eindringen.
Eine eventuelle frühere Freundschaft zerbricht, der Betroffene wendet sich denjenigen Menschen zu, die ihn im süchtigen Verhalten bewußt oder unbewußt unterstützen.
All dies nur deshalb, weil der Betroffene noch nicht zu seiner Sucht stehen kann! Ein Angehöriger oder Freund wird es zu diesem Zeitpunkt der Krankheit niemals erleben, daß der Abhängige in irgendeiner Form Einsicht zeigt.

Die Frage nach der Hilfe-Möglichkeit sollte also nicht lauten: "Wie kann der schreckliche Zustand der fortschreitenden Suchtkrankheit gemildert werden ...?" sondern sollte folgendermaßen formuliert werden:
Wie bringe ich einen Süchtigen zur Einsicht seiner Sucht?
Wie bringe ich ihn zur Umkehrbereitschaft?
Die Hilfe für einen Süchtigen darf niemals aus falschem Mitleid mit seiner Krankheit und seinem Zustand bestehen! Dies würde die Sucht verlängern, und der Abhängige würde immer wieder zum Suchtmittel greifen, nur um dieses Mitleidsgefühl für sich zu erhaschen.
Solange der Betroffene keine Einsicht zeigt, sollte grundsätzlich alles unterlassen werden, was seinen Zustand erleichtert. Schauen wir uns nun einmal anhand der folgenden Grafik den ungefähren Verlauf einer Sucht an:

--- graphik ---

In etwa ähnelt dieser Verlauf einer Hyperbel-Form. Anfangs ist eine Sucht überhaupt noch nicht erkennbar. In dieser Einstiegsphase werden die ersten Bierchen getrunken, die ersten Zigaretten geraucht. der erste Joint genommen. Alles noch offensichtlich harmlos!
("Macht ja jeder ...")

Dann beginnt die Phase des Absturzes und somit die Phase der Lügen, des "Kartenhauses an Schein-Realitäten", der Verharmlosung, aber auch der sichtbaren Veränderung des Betroffenen, erkennbar für alle seine Angehörigen und Freunde (Siehe Kap. 2).
In dieser Phase ist nicht an ihn heranzukommen, weil die Einsicht in die Sucht noch völlig fehlt.

Unter dem angedeuteten Tiefpunkt der Sucht liegt das Siechtum eines Süchtigen und sein Tod. In dieser Phase ist eine Hilfeleistung zu spät. Die Natur hat hier ein sehr klares und hartes Auslese-Prinzip, indem sie entscheidet: "Nicht mehr lebensfähig - auf Wiedersehen!"
Diese Worte sind bewußt so zynisch formuliert, denn Sucht ist eine tödliche Krankheit, wenn sie weiter fortschreitet.
(Nebenbei bemerkt: Eine Sucht kann nur aufgehalten werden!
Geheilt werden kann sie nie, wie in Kapitel 7 erläutert wird.)

Zurück zum Sucht-Verlauf:
Vor dem Tiefpunkt einer Sucht ist eine Hilfe also zu früh, nach diesem Punkt kommt sie jedoch zu spät. Somit bleibt tatsächlich nur dieser bereits beschriebene Tiefpunkt eines Süchtigen, um eine Umkehr mög-lich zu machen. Und dieser Punkt ist deutlich daran zu erkennen, daß die ersten Anzeichen von Einsicht in die Sucht zu sehen sind.

Das Niveau dieses Tiefpunktes im Endstadium liegt bei jedem Süchtigen verschieden hoch:
Einer braucht vielleicht nur den Führerschein im Rausch zu ver-lieren. Dieses Erlebnis mach ihn so betroffen, daß er daraufhin endlich seine falsche Lebensweise einsieht und unter Umständen sogar von heute auf morgen mit dem Suchtmittelmißbrauch aufhört.
Ein anderer muß erst alles verlieren. Freunde, Familie, Arbeit, Geld, Gesundheit, Selbstbewußtsein etc. etc. - bis er völlig allein und ver-lassen, innerlich und äußerlich zerstört, vor den Scherben seines Lebens steht. Dann erst ist er (vielleicht noch ...) zur Umkehr bereit.
Doch irgendwo zwischen diesen Extremen liegt der persönliche Tief-punkt eines jeden Betroffenen. Erkennbar daran, daß er jeden möglichen "Strohhalm" an Hilfe freiwillig ergreift und seine Sucht vor sich selbst und vor anderen zugibt. Das Lügengebäude bricht dann endlich zusammen.

Es ist schrecklich für Freunde und Angehörige zu sehen, wie der Süch-tige immer tiefer und tiefer fallen muß, bevor diese Einsicht möglich ist. Doch leider ist der ungeheuere Leidensdruck eines totalen Absturzes die einzige Möglichkeit, um die Sucht durch eine Bereitschaft zur Umkehr zu stoppen. Eine zu früh "erzwungene" und aufgedrängte Hilfe ist sinnlos, da sie wahrscheinlich zu Rückfällen führt. Beispielsweise, wenn der Chef einem Arbeitnehmer nahelegt, zur Entziehungskur zu gehen, sonst verliere er den Arbeitsplatz, oder wenn der Ehepartner mit Scheidung droht, falls keine Therapie angetreten wird. Gut! Der Betroffene wird sich durch äußeren Druck zunächst widerwillig einer Langzeit-Therapie fügen. Da dieser Entschluß jedoch nicht wirklich freiwillig geschah und somit keine aufrichtige Motivation vorlag, genügen nach der Therapie meist geringe Anlässe, um die Sucht wieder aufblühen zu lassen. Man muß zwar erwähnen, daß in vielen Fällen eine echte Motivation erst während einer Therapie entsteht, so daß eine erzwungene Maßnahme nicht völlig abzulehnen ist und auf alle Fälle besser ist, als gar keine.

Wesentlich mehr bewirkt jedoch eine völlig freiwillig angetretene Entziehungskur auf eine echte Bereitschaft hin.
Denn in diesem Falle beginnt der Betroffene (vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben) an sich selbst zu arbeiten, bewältigt aus eigener Kraft und aus freiem Willen das größte Problem seines Lebens - und kann auch das Erfolgserlebnis der Bewältigung für sich verbuchen.

Die Aufgabe eines helfenden Angehörigen oder Freundes sollte also in der Aktivierung des Betroffenen zur Selbsthilfe bestehen. Dies kann in mehreren Schritten vonstatten gehen:

Von Anfang an dem Betroffenen kein falsches Mitleid zukommen lassen, denn der Betroffene wird immer wieder zum Suchtstoff greifen, um gerade dieses Mitleid zu erhalten. Es ist die einzige Zuwendung, die ihm vielleicht noch erhalten bleibt und die ihn unbewußt immer wieder zur Sucht ermuntert (" ...wenn ich süchtig bleibe, werde ich armer Tropf schön bemitleidet ...").
Statt dessen soll der Angehörige dem Betroffenen deutliche Ab-lehnung entgegenbringen, ihm jedoch gleichzeitig ständig seine Hilfe an-bieten, wenn er bereit ist, etwas zu unternehmen.
Ablehnen des Zustandes - jedoch Auffangen des Menschen!
Ohne dieses Auffangen könnte der Betroffene ganz zugunde gehen, er braucht also tatsächlich eine starke Ermunterung bzw. das Wissen um eine mögliche Hilfe-Quelle, an die er sich jedoch selbst wenden muß, die sich ihm keinesfalls aufdrängen sollte.
Der Helfer sollte sich niemals genieren, den Süchtigen im Rausch äußerst hart anzupacken und ihm deutliche Härte entgegenzubringen. Vergessen Sie nie, lieber Leser, daß die Sucht eine übelste Kraft der Zerstörung dar-stellt. Wenn sie nicht selbst vernichtet wird (oder sagen wir besser ver-wandelt, denn physikalisch gesehen können Energien nie verloren gehen, sie können nur ihre Erscheinungsform ändern: aus der zerstö-renden Sucht-Energie wird eine kraftvoll-dynamische kreative Energie im Leben des "Trockenen" ...), dann zerstört diese dunkle Energie alles andere in ihrer Umgebung; zuerst meist die Angehörigen des Betroffe-nen, die das Leid irgendwann nicht mehr ertragen können und seelisch zugrunde gehen, zuletzt den Betroffenen selbst.

Der Betroffene ist im Endstadium der Sucht nicht mehr derselbe Mensch, der einst geliebt und geschätzt wurde. Dieser ursprüngliche Charakter ist jedoch noch in den Tiefen des umnachteten Bewußtseins vorhanden und wird auch wieder aufblühen und von neuem erstarken, wenn die Sucht bekämpft worden ist. Deshalb muß dieser verlogenen süchtigen Persön-lichkeit an allen Ecken und Enden Druck und Ablehnung entgegenge-bracht werden, damit sie keine Chance hat, sich weiter auszudehnen. Irgendwann wird dann die Sucht von diesem Menschen abfallen wie ein Puppenkokon von einem schlüpfenden Schmetterling. Das alte, verkom-mene Leben wird abgestreift werden. Eine echte Metamorphose wird stattfinden: Aus der Asche der Sucht wird sich der Feuer-Vogel Phönix in neuer Lebensfreude und Kraft erheben.

Ein bewußtes, zufriedenes und kreatives neues Leben wird aus dem alten Schutt erblühen und seine Früchte an die Umwelt verschenken.

Es muß überall mit "offenen Karten" gespielt werden. Der Helfer darf die Lügen des Betroffenen keinesfalls unterstützen. Freunde, Arbeitgeber, Arzt etc. sollten eingeweiht werden.
Wenn sich beispielsweise der Alkoholiker betrunken ans Steuer setzt und sich den Schlüssel nicht abnehmen läßt, so sollte auch beim ersten Vorfall dieser Art sofort die Polizei gerufen werden.
Solche Verantwortungslosigkeiten sind kein Kavaliersdelikt!
Wenn ein Betrunkener in seinem Zustand einen Menschen überfahren hat (obwohl es hätte verhindert werden können - durch Einschalten der Polizei), dann trifft einen Großteil der Schuld diejenigen, die zu schwach, ja zu feige waren, den Betrunkenen aufzuhalten. Die Psychologie hat einen treffenden Begriff für diese Art von Mitläufertum und unbe-wußter Unterstützung einer Trunksucht geprägt: Co-Alkoholismus!
Die Co-Alkoholiker sind oft wesentlich schlimmer als der eigentlich Betroffene, denn sie werden nie selbst auffällig, sondern können alle Schuld an den Geschehnissen stets mit moralisch erhobenem Zeigefinger dem Betroffenen zuweisen. So ist Suchtkrankheit, speziell der Alkoho-lismus, in sehr vielen Fällen eine Gruppen- bzw. Familienkrankheit, in der jedes Mitglied der Gruppe/Familie eigentlich therapiert werden sollte.
Ist der individuelle Tiefpunkt der Sucht erreicht und sind die ersten Anzeichen von freiwilliger Einsicht vorhanden, dann kann der Angehörige mit dem Betroffenen zuerst einmal zu einer Beratungsstelle oder Selbsthilfe-Einrichtung gehen, in der trockene Süchtige oder fach-lich geschulte Therapeuten (meist ebenfalls ehemalige Suchtkranke) über die weiteren Schritte aufklären. Erste Therapie-Gespräche können geführt werden, der Mut zur Selbst-Hilfe des Betroffenen kann gestärkt werden, so daß er wirklich aus tiefstem Herzen sagen kann: "Ich will und werde die Sucht besiegen! "
Ist ein Betroffener durch den Antrieb eines Angehörigen oder Freundes erst einmal freiwillig zu einer Beratungsstelle oder Selbst-Hilfe-Gruppe gegangen, so ist dies wirklich der erste Schritt zur Freiheit geworden. Den Tiefpunkt rechtzeitig zu erkennen und den Kranken durch Ab-lehnung darauf zuzutreiben, sind somit wichtige Hilfeleistungen von Seiten der Angehörigen und Freunde.
Immer unter der Einschränkung, daß die eigentliche Hilfe aus dem Betroffenen selbst kommen muß!
Jeder Süchtige muß völlig individuell behandelt werden, so daß es vermessen wäre, an dieser Stelle konkrete Ratschläge zu geben.
Einen konkreten fachlichen Rat kann sich ein Angehöriger oder Freund ebenfalls von den genannten Stellen holen, ebenso die Kraft, um eine Sucht zusammen mit dem Betroffenen durchzustehen.
Letzteres ist besonders wichtig! Es erfordert tatsächlich ungeheuere innere Stärke, einen lieben Menschen vor seinen Augen allmählich zugrunde gehen zu sehen und ihm wissentlich nicht helfen zu können, ehe er ganz tief gesunken ist.
Dazu haben die Anonymen Alkoholiker (AA) beispielsweise eine Ange-hörigengruppe angegliedert. Sie nennt sich ALANON und ist gerade für Familienmitglieder von Alkohol-Abhängigen (ob "naß" oder "trocken") sehr zu empfehlen.

Von Seiten der Beratungsstellen kommen dann auch wichtige Tips dazu, wie es weitergehen soll. Ob nun eine Langzeit-Therapie in Erwägung gezogen werden soll, ob ambulante Gespräche ausreichen - und vieles mehr ...