Der Junge und der Philosoph
Bernd war ein zehnjähriger Junge, der tagaus, tagein scheinbar nur Flausen im Kopf hatte und seine Eltern stets auf Trab hielt, wenn er ausnahmsweise einmal nicht irgendwo herumstöberte.
In der Schule war er ein mäßiger Schüler, denn er interessierte sich kaum für irgendwelche Bücherweisheiten, sondern war dauernd auf der Suche nach eigenen Entdeckungen. Allerdings wurde es von seinen Lehrern nicht immer begeistert aufgenommen, wenn Bernd mit den eigenartigsten Insekten, Pflanzen oder Steinchen in die Schule kam und darüber weitreichende Fragen stellte, denn bei manch einer Frage mußten die Damen und Herren Lehrer mehr oder weniger kleinlaut zugeben, daß sie keine Antwort wußten. Oft genug rügten die Pädagogen sogar die Art der Fragestellung und meinten, daß sie auf solch eine Dummheit gar nicht antworten müßten; es sei unsinnig, was Bernd da wissen wolle. Nun, die Fragen des Jungen zeugten auch weniger von Wissensdurst, sondern eher von einer unerhörten Intuition über spirituelle Zusammenhänge, was für einen Zehnjährigen durchaus ungewöhnlich war.
Was hätte ein Lateinlehrer der ersten Gymnasialklasse auch auf die Frage antworten sollen, ob die römische Gottheit Neptun ein Sinnbild für die Weite des Ozeans gewesen sei oder eine wirklich existente Wesenheit, die in das Leben derjenigen Menschen einzugreifen vermochte, die sie verehrten? Wie hätte ein Biologielehrer auch reagieren sollen, dem einer seiner Schüler vor einem geplanten Sezier-Versuch an einem betäubten Frosch (zu pädagogischen Zwecken - versteht sich!) mit deutlichen Worten entgegenbrachte, ob er sich über die Folgen seiner Handlungsweise im klaren sei? Sicher wisse er nicht, daß ihm ein innerlich vergleichbares Schicksal drohe, wenn er sich an dem wehrlosen Frosch verginge ...
Bernd wurde von den meisten seiner Lehrer daher als völlig versponnen und weltfremd abgelehnt, und sie versuchten immer wieder, seine Eltern von seinem wirren Kopf zu überzeugen. Zum Glück gelang ihnen das nie, denn die Eltern, die selbst auch einen spirituellen Lebensweg eingeschlagen hatten, standen voll hinter ihrem Sohn, was ihnen sogar einmal eine amtliche Untersuchung eingebracht hatte, ob sie überhaupt im Stande seien, die Sorgepflicht gewissenhaft auszuüben. Damals hatten sie sich geweigert, ihr Kind gegen alle möglichen Krankheiten impfen zu lassen, was ihnen dagegen der Schularzt nachhaltig empfohlen hatte. Erst als die Eltern in einer großen öffentlichen Aktion und mit Rundschreiben an andere Eltern von Schülern dieses Gymnasiums zeigten, welch ungeheuerlicher Schwindel jene Massenimpfungen seien (was sie durch entsprechende Zahlen und Aussagen von auf diesem Gebiet forschenden Ärzten tatsächlich belegen konnten), da wurden sie und ihr Sohn mit einem Mal in Ruhe gelassen, als wenn niemand mehr Zündstoff in schwelendes Feuer werfen wollte.
Kurzum, Bernd war ein mit außergewöhnlichen Intuitionen gesegnetes Kind, das in seinen Eltern festen inneren Halt fand, um sich gegen eine oft feindliche und Ängste suggerierende Gesellschaft zur Wehr zu setzen.
Doch war er in keinster Weise ein Außenseiter.
Im Gegenteil: Er hatte sehr viele und besonders ehrliche Freunde, da diese von seinem aufgeschlossenen und entdeckungsfreudigen Wesen, frei von allen engstirnigen und unterdrückenden Doktrinen, sehr angezogen wurden.
Dieser Junge Bernd geriet nun eines Tages in eine Situation, die einerseits als Beispiel für den sogenannten Generationskonflikt gelten kann, andererseits als Aufeinanderprallen von zwei völlig verschiedenen inneren Existenzebenen, von denen die eine seine intuitiv geprägte, kindliche Welt an Reinheit und Lebensannahme verkörperte, die andere jedoch als Manifestation derjenigen Kraft angesehen werden kann, die unsere wunderschöne Erde in diesem Jahrhundert in eine Sackgasse aus inneren und äußeren Verschmutzungen, Kriegen und Frustrationen gedrängt hat.
Bernd hatte in den diesjährigen Sommerferien einen Job als Fahrrad-Bote einer Kurierfirma angenommen, die dringendste schriftliche Mitteilungen innerhalb des Stadtzentrums ausfuhr.
Eines Tages hatte er einen Expreßbrief eines Verlages zu einem gewissen Herrn Dr. Lehnhard zu bringen, der ein international bekannter Philosoph und berühmter Geisteswissenschaftler war. Bernd freute sich sehr über diesen Auftrag, denn die Sendungen waren stets persönlich zu überbringen, und so lag es in der Natur der Sache, daß er Herrn Dr. Lehnhard dadurch persönlich kennenlernen konnte.
Die Sonne stand heiß am Mittagshimmel, als Bernd sein Fahrrad vor der fast hermetisch abgeriegelten Villa des Philosophen ab-stellte und auf die vergitterte Tür des Anwesens zuging.
Mit spürbarem Herzklopfen drückte er auf den überdimensionalen Klingelknopf, unter dem auf einem goldenen Schild in prachtvollen Lettern zu lesen stand:
Dr. phil. Konrad Maria Lehnhard
Philosophischer Schriftsteller
"Was muß das nur für ein wunderbarer Mensch sein ..." freute sich Bernd und öffnete die reich verzierte Tür des Gartens, als der elektrische Öffner hörbar summend Einlaß gewährte.
Er schlenderte lässig, doch aufmerksam alles betrachtend durch einen wunderbaren Blumengarten, dessen Springbrunnen, Tei-che und Beleuchtungsanlagen nicht gerade von Armut zeugten, bis er zur geöffneten Haustür der weißen Villa gelangte, unter der ein edel aussehender, weißgekleideter Mann stand.
"Kein Zweifel, das ist der Philosoph ..." fuhr es Bernd durch den Kopf, als er die hochgewachsene Gestalt mit bronzenem Teint zwischen den Türsäulen erblickte. So sprach er ihn höflich an: "Schönen Tag, Herr Doktor Lehnhard, ich bringe Ihnen ein wichtiges Schreiben."
Doch der Weißgekleidete widmete Bernd nur ein saures Lächeln und antwortete mürrisch: "Ich bin nicht der gnädige Herr, Dummkopf. Und was könntest du schon Wichtiges für ihn liefern?"
Der Junge mußte erst mal vor Schreck schlucken, so sehr hatten ihn die verletzenden Worte getroffen. Er ahnte plötzlich, daß dies nur der Anfang einer äußerst seltsamen Begegnung war.
"Na los, gib mir schon den Wisch und dann verschwinde!" befahl der Hausdiener (oder was der Mann auch immer verkörperte) dem verblüfften Bernd.
Doch dieser hatte rasch seine Sprache wiedergefunden und erwiderte pfiffig: "Nein! Diesen Brief muß ich dem Herrn Doktor persönlich überbringen! Ich darf Ihnen den Umschlag nicht geben. Unmöglich!"
Dabei blickte er dem Weißgekleideten mit entschlossener Miene in die Augen, um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen.
Unerwarteterweise gab der Diener auch sofort nach und antwortete: "Nun gut, wenn du es für richtig hälst, den vielbeschäftigten Herrn Doktor persönlich zu belästigen, dann komm halt mit, doch führe dich anständig auf, wenn du ihm gegenüberstehst. Der gnädige Herr ist ein Mann von großer Bedeutung. Man muß ihm den gebührenden Respekt mit der nötigen Portion Anstand entgegenbringen. Hast du das verstanden?"
Der Diener musterte Bernd dabei mit einem Blick, der sogar kochendes Wasser vor Verachtungs-Kälte in einen Eisklumpen verwandelt hätte. Der Junge machte jedoch gute Miene zum bösen Spiel und ließ sich nicht ins Bockshorn jagen.
Fröhlich und bestimmt antwortete er: "Ich denke schon ..." und schritt hinter dem Diener ins Haus, der ihn alsbald durch mehrere düster und schwermütig eingerichtete Gänge in eine Art Warteraum führte.
"Ich melde dich beim gnädigen Herrn, bitte warte hier", sagte der Weißgekleidete korrekt, ließ den Jungen auf einem Stuhl Platz nehmen, rückte seine Fliege zurecht, räusperte sich etwas verlegen und betrat dann nach vorherigem vorsichtigen Klopfen das Arbeitszimmers des Geisteswissenschaftlers.
Er war rasch zurück und meinte, ein klein wenig gelöster als vorher: "Du kannst eintreten, Junge, der Herr Doktor hat heute gute Laune. Er empfängt!" "Seltsam", dachte sich Bernd nach dieser Bemerkung, "seit wann macht es ein Philosoph von seinen Launen abhängig, ob er Besuch empfängt oder nicht? Eigentlich müßte er doch weit über allen Launen stehen ..."
Er betrat das geräumige Zimmer, das einen ebenso düsteren Eindruck machte wie die ganze bisher gesehene Einrichtung.
Dunkelbraune, klobige Holzmöbel für den Arbeitsbereich er-zeugten zusammen mit einer endlosen, staubig wirkenden Bibliothek und einer ausgesessenen, ebenfalls braunen Ledergarnitur eine drückend schwere Atmosphäre, die nur durch ein träge flackerndes Kaminfeuer in der Ecke etwas aufgelockert wurde. Pflanzen fehlten völlig, dafür hingen an der Wand allerlei Gewehre und exotische Jagdtrophäen.
In einem breiten Ledersessel saß Herr Dr. Lehnhard hinter seinem massiven Schreibtisch und paffte eine ebenso massive Zigarre. Er sagte kein Wort, sondern fixierte Bernd durch dicke Brillengläser mit seltsam starrem Blick und schien auf einen Gruß des Jungen zu warten.
Einige Sekunden lang herrschte eisige Stille, denn der sonst so lebenslustige Bernd fühlte sich ziemlich beklemmt in dieser eigenartigen Situation. So nahm er sich einen Moment Zeit, seinen Gegenüber zu betrachten. Herr Dr. phil. Konrad M. Lehnhard erinnerte im ersten Moment in seiner Leibesfülle und in seinem Gesichtsausdruck an den englischen Politiker Churchill, dessen Bild der Junge einmal in einem Schulbuch gesehen hatte. Doch Churchill hatte auf ihn trotz seiner Beleibtheit einen recht dynamischen Eindruck gemacht, während dieser Doktor hier in seinem dunklen Anzug und seinem ganzen Äußeren eher träge und sehr behäbig wirkte. Seine starren Augen waren Bernd sogar richtig unheimlich.