Das Zwergle und der große Berg aus Glas

Unser Zwergle ging wieder einmal durch den Zwergle-Wald. Es hatte auch sein Zauberschwert dabei, denn es wollte in eine weit entfernte Gegend des Waldes wandern, wo überhaupt keine Zwergles mehr lebten. Da konnte man nie wissen, was alles passieren kann. Doch mit dem Zauberschwert im Gürtel fühlte sich das Zwergle sehr sicher, wußte es doch, daß man mit dem goldenen Licht alles Böse in etwas Gutes verwandeln kann.
So wanderte es und wanderte immer weiter, bis der Wald immer dunkler und dichter wurde und überhaupt kein richtiger Weg mehr zu sehen war. Doch Zwergle hatte ja überhaupt keine Angst mehr. So ging es immer weiter in diesen dunklen Teil des Waldes hinein, bis es auf einmal auf eine große Lich-tung kam, auf der keine Bäume wuchsen.
Doch mitten auf der Lichtung stand ein sehr, sehr hoher Berg, dessen Gipfel bis zu den Wolken hinaufragte. Und dieser Berg schimmerte und funkelte ganz orange und rot in den Strahlen der untergehenden Sonne.

Das Zwergle ging zu dem Berg hin und fühlte, daß er ganz und gar aus Glas war. Als es versuche, ein wenig an dem Berg hin-aufzuklettern, rutschte es sofort wieder herunter, denn das Glas war natürlich sehr glatt. Daran konnte man nicht hinaufklettern.
"Naja," sagte das Zwergle zu sich selbst, "dann werde ich jetzt erst einmal schlafen. Morgen werde ich schon sehen, welches Abenteuer ich hier erleben werde." Dann suchte es sich Waldbeeren zum Abendessen, meditierte noch lange zur untergehenden Sonne hin und legte sich später im weichen Moos schlafen.

In der Nacht hatte das Zwergle einen sehr seltsamen Traum: Es träumte, daß ganz oben auf dem Glasberg eine große Kiste mit einem sehr wertvollen Schatz stand. Dieser Schatz wurde von einem bösen Drachen bewacht, der Feuer speien konnte. Wenn jemand kam, um den Schatz zu holen, dann stellte der Drache demjenigen drei schwere Fragen. Wenn er alle drei Fragen beantworten konnte, dann mußte der Drache den Weg zum Schatz freigeben. Doch wer nur eine einzige Frage falsch beantwortete, der wurde sofort vom Drachen gefressen.
Als es Morgen war, konnte sich unser Zwergle nach dem Aufwachen noch ganz genau an diesen Traum erinnern. Es sprach zu sich selbst: "Also, ich würde diese Schatzkiste schon gerne suchen. Vielleicht sind da viele Edelsteine drin.
Und vor einem Drachen habe ich sowieso keine Angst. Ich habe ja das Zauberschwert dabei. Aber wie soll ich nur auf diesen Glasberg hinaufkommen?"
Kaum hatte das Zwergle diese Worte gesprochen, da erschien vor ihm eine wunderschöne Fee. Es war die Fee Atmia, die auch schon vielen anderen Zwergles geholfen hatte. Sie hatte gehört, was das Zwergle gesagt hatte und sprach nun: "Liebes Zwergle, wenn du auf den Berg hinaufgelangen willst, dann sollst du nicht klettern, denn das schaffst du nie. Rufe doch einfach den Vogel Roch. Der wird dich vielleicht hinauffliegen."

"Wer ist denn der Vogel Roch?" fragte das Zwergle.
Atmia antwortete: "Der Vogel Roch ist der größte Vogel der Welt. Er ist so riesig groß, daß die meisten Menschen Angst vor ihm haben und vor ihm davonlaufen. Dabei ist er er ganz lieb. Er mag es nur nicht, wenn man lügt. Dann kann der Vogel Roch sehr, sehr böse werden."
Das Zwergle sagte darauf: "Na, vielleicht haben deswegen die Menschen so sehr Angst vor ihm, weil sie so oft lügen. Ich jedenfalls, ich habe keine Angst. Sag, liebe Atmia, wie kann ich denn den Vogel Roch rufen?"
"Du hast doch dein Zauberschwert dabei. Versuche einfach, ihn mit dem Schwert herbeizurufen. Ich denke, das wird gehen. Ich wünsche dir viel Erfolg bei der Schatzsuche", antwortete die Fee Atmia, verabschiedete sich vom Zwergle und löste sich wieder in einer Rauchwolke auf.
Sofort zog unser Zwergle sein goldenes Zauberschwert heraus, hob es hoch in die Luft und rief: "Hokus-pokus-fidibus, der Vogel Roch soll hier erscheinen!"

Dann steckte es sein Schwert wieder weg und wartete, was geschehen würde. Und es dauerte keine Minute, da verfinsterte sich der Himmel, so etwas Großes kam da angeflogen. Es rauschte, Wind kam auf, und einen Augenblick später stand der Vogel Roch auch schon vor dem Zwergle und sah es durchdringend an. Zwergle hatte noch niemals einen so großen Vogel gesehen. Er war größer als drei Bäume zusammen. Aber Angst hatte es trotzdem nicht, denn die Fee hatte den Vogel Roch sehr lieb genannt. Da sprach der Riesenvogel zum Zwergle: "Du hast mich gerufen, kleiner Zwerg, sag, was du willst. Vielleicht kann ich dir helfen."
"Oh ja, du kannst mir sicher helfen, lieber Vogel, vielen Dank auch, daß du auf meinen Ruf gekommen bist. Weißt du, ich möchte gerne auf den Glasberg hinaufkommen. Kannst du mich dort bitte hinauffliegen?"
"Wenn es weiter nichts ist ..." lachte der Vogel, ließ das Zwergle auf seinen Hals klettern und sich gut festhalten und erhob sich dann hoch in die Lüfte. Die Luft brauste und zischte, als der Vogel höher und immer höher den Berg hinaufflog, und im Nu landete er schon auf dem Gipfel des Glasberges.

Das Zwergle stieg ab und bedankte sich beim Vogel Roch für seine Hilfe. Als der Riesenvogel wieder abgeflogen war, sah sich das Zwergle erst einmal genau um. Da sah er auch schon eine Höhle, die direkt unterhalb des Gipfels in den Berg hin-einführte. Er kletterte zu der Höhle und ging vorsichtig rein.
Da der Berg aus Glas war, brauchte das Zwergle hier keine Kerze anzuzünden, denn das Sonnenlicht schien durch den Berg hindurch, und alles war ganz hell in der Höhle. Langsam ging das Zwergle tiefer in die Höhle hinein, denn jeden Moment konnte ja der Drache auftauchen, der den Schatz bewachte.
Und dann war es schon soweit! Das Zwergle hörte ein lautes Brüllen, und aus einem Seitengang der Höhle kam der Drache heran. Schrecklich war er anzusehen, mit grünen Borsten überall auf der runzligen Drachenhaut! Und aus seinen Nasenlöchern, seinen Ohren und aus seinem Mund qualmte stinkender Rauch. Der Drache brüllte das Zwergle an: "Wer bist du? Was willst du hier?"

Doch das Zwergle ließ sich nicht einschüchtern und sagte ganz keck: "Ich bin das Zwergle, und ich will mir deine Schatzkiste holen." Da fing der Drache ganz fürchterlich zu lachen an und sagte: "Hahaha, du kleiner Wicht willst den Schatz holen? Weißt du nicht, daß du zuerst drei schwere Fragen beantworten mußt, bevor ich dich in die Schatzhöhle lasse? Wenn du nur eine Frage falsch beantwortest, dann werde ich dich fressen, Kleiner." "Ich habe keine Angst," sagte unser Zwergle, "fang nur an zu fragen. Ich werde dir schon alles richtig beantworten." "Nun gut!" zischte der Drache mit funkelnden Augen, "dann höre gut zu. Die erste Frage lautet: 'Wie heißt denn das kleine Gespenst, das immer die Menschen ärgern will?' Das weißt du niemals, Zwergle!" "Doch, das weiß ich", sagte Zwergle und fuhr fort: "Das kleine Gespenst heißt Sukipukel. Ich kenne es gut. Ich habe es auch schon einmal überlistet." Da zischte der Drache und ärgerte sich so sehr, daß er ganz dunkelgrün wurde vor lauter Ärger, denn er konnte das Zwergle ja noch nicht fressen. Die Frage war nämlich richtig beantwortet.
"Na gut", sagte der Drache, "das stimmt. Doch die zweite Frage kannst du niemals richtig beantworten. Höre zu: 'Warum sind denn die Blätter an den Bäumen grün?'"
Das Zwergle überlegte kurz und antwortete: "Die Bäume holen sich Wasser und viele Nahrungs-Stoffe mit ihren Wurzeln aus der Erde. Doch sie brauchen auch Luft zum Leben. Die Luft atmen sie mit ihren Blättern ein. Und dann treffen die Nährstoffe aus dem Boden mit den Nährstoffen aus der Luft in den Blättern zusammen. Jetzt fehlen nur noch Sonnenlicht und die grünen Farbstoffe aus den Blättern, damit der Baum leben kann. Die Blätter sind also grün, weil in ihnen die Sonne die Nahrung für die Bäume bildet, deren Zutaten die Bäume selbst aus dem Boden und aus der Luft holen. Ohne Sonne wären die Blätter nicht grün, und der Baum könnte nicht leben und wachsen."

Da zischte der Drache wieder und ärgerte sich so sehr, daß er ganz blau wurde vor lauter Ärger, denn er konnte das Zwergle ja immer noch nicht fressen. Die Frage war nämlich auch richtig beantwortet.
"Na gut", sagte der Drache, "das hast du auch noch richtig gesagt. Doch die Antwort zur dritten Frage kannst du niemals wissen. Höre zu: 'Wo befindet sich denn der richtige Himmel, der Ort, an dem die Engel leben?' Das weißt du niemals, du dummes Zwergle!"
Unser Zwergle lächelte und antwortete: "Ei freilich weiß ich's! Der Himmel ist eigentlich überall, wo man ihn nur sehen und fühlen will. Er ist über den Wolken genauso wie hier im Glasberg. Besonders aber ist der Himmel mitten im Herzen drin. Dort kann man den lieben Gott ganz besonders spüren, wenn man aufmerksam ist." Da zischte der Drache und ärgerte sich so sehr, daß er ganz schwarz wurde vor lauter Ärger, denn auch diese Frage war richtig beantwortet.

"Na gut", sagte der Drache, "die dritte Frage hast du auch noch richtig beantwortet, aber zum Schatz lasse ich dich trotzdem nicht. Denn du hast hier vom lieben Gott geredet. Dieser Berg hier ist aber ein Drachenberg. Da darf man nicht vom lieben Gott reden, nur von bösen Dingen. Deshalb werde ich dich jetzt trotzdem fressen, auch wenn du alle Fragen beantwortet hast."
Und der Drache sperrte sein schreckliches Maul ganz weit auf und kroch auf das Zwergle zu. Dieses jedoch zog sein Zauber-schwert heraus und wollte den Drachen damit verwandeln. Leider hatte das Zwergle aber einen Stein auf dem Boden der Höhle übersehen. Als er sein Schwert zog, stolperte er über diesen Stein und fiel auf den Boden. Das Schwert glitt aus seiner Hand und wurde durch den Sturz ganz weit weggeschleudert.
Oh weh! Da lag das Zwergle nun auf dem Höhlenboden. Sein Schwert war weg, und es konnte den Drachen nicht mehr verwandeln, der schon ganz nahe war und sein Maul immer weiter aufriß.
In letzter Sekunde erinnerte sich unser Zwergle an den goldenen Edelstein, den es einst von Gorr erhalten hatte. Gorr war ja inzwischen sein Freund geworden und hatte dem Zwergle damals zum Abschied einen goldenen Edelstein gegeben und gesagt: "Zwergle, wenn du einmal meine Hilfe brauchst, dann drücke diesen Stein ganz fest an dein Herz. Dann werde ich sofort bei dir sein und dir helfen."
Also zog das Zwergle ganz rasch den goldenen Edelstein aus der Hosentasche, drückte ihn fest an sein Herz und rief: "Lieber Gorr. Bitte komm und hilf mir ganz rasch. Ich soll nämlich aufgefressen werden."
Und sofort stand der schöne Gorr vor dem Zwergle und schützte es mit einem echten Schwert vor dem bösen Drachen.

Der Drache wurde jetzt noch wütender, weil das Zwergle beschützt wurde, und spuckte Feuer und Rauch vor Zorn.
Doch das Zwergle rannte schnell zu seinem Zauberschwert, packte es, hob es hoch in die Luft und rief: "Hokus-pokus-fidibus, dieser böse Drache soll ein goldener Drache der Weisheit werden."
Da gab es einen Donnerschlag. Ein heller Lichtblitz fuhr in den bösen Drachen. Dieser schrie laut auf und spuckte Feuer und Rauch. Doch es half ihm alles nichts! Das goldene Licht aus dem Zauberschwert verwandelte ihn.

Und als sich der Rauch wieder verzogen hatte, da stand ein goldener Drache in der Höhle am Gipfel des Glasberges.
Dieser sagte nun: "Oh, liebes Zwergle, ich bin dir sehr, sehr dankbar, daß du mich endlich erlöst hast. Ich wollte schon lange kein böser Drache mehr sein. Nun bin ich endlich zu einem lieben Drachen geworden, der alles weiß."
Gorr, der ja jetzt sehr schön geworden war, sagte: "Ich kehre nun wieder zurück. Auf Wiedersehen, Zwergle, auf Wieder-sehen, Drache. Besucht mich mal, wenn ihr wollt."
Und dann war Gorr auch schon wieder verschwunden.
Der goldene Drache der Weisheit nahm das Zwergle nun bei der Hand und führte es ganz tief in die Höhle hinein, bis sie in eine funkelnde Halle kamen, in der eine große Schatzkiste stand. Der Drache öffnete die Kiste.
Da leuchteten und funkelten all die Edelsteine, daß sich das Zwergle nur so freute. "So, Zwergle, du darfst dir nun nehmen, soviel du willst", sagte der Drache.
Das Zwergle freute sich sehr bei diesem Anblick. Es nahm sich aber nur eine Kette aus Lapislazuli-Steinen und eine Kette aus Rubinen. Alles andere ließ es liegen.

Dann sprach Zwergle zum Drachen: "Das ist genug. Der blaue Lapislazuli soll mir nun viel Kraft geben, daß ich noch viele andere böse Drachen verwandeln kann. Und der rote Rubin soll mir immer mein Herz offen halten, daß ich immer den lieben Gott darin fühlen kann. Die anderen Edelsteine kannst du anderen Zwergles oder Menschen geben, die nach dem Schatz suchen werden. Vielleicht werden noch viele kommen, und die sind dann sehr traurig, wenn die Schatzkiste schon ganz leer ist. Vielleicht haben diese Leute dann auch ganz viele Fragen. Und du kannst sie ihnen alle beantworten."
So sprach das Zwergle und hängte sich die beiden Ketten mit den Edelsteinen um den Hals.
Der Drache aber antwortete: "Es freut mich sehr, daß du an die anderen Schatz-Sucher gedacht hast, Zwergle. Und ich werde ihnen sicher alle Fragen beantworten. Sie müssen nur zu mir auf den Glasberg hinaufkommen. Dann bekommen sie Edelsteine und Antworten auf ihre Fragen."
Das Zwergle verabschiedete sich nun vom Drachen auf dem Glasberg. Dann ging es wieder aus der Höhle hinaus, kletterte auf den Gipfel des Berges, holte mit dem Zauberschwert den Vogel Roch herbei und ließ sich direkt zu seinem Haus fliegen, wo Zwergle-Papa und Zwergle-Mama schon auf ihn warteten.
Und beide freuten sich sehr, als sie hörten, daß es jetzt noch einen zweiten goldenen Drachen der Weisheit im Zwergle- Wald gab, der verwandelt war und der alle Fragen beantworten konnte.