Die Höhle des Feuers
Das nächste Tor unterschied sich kaum vom ersten, nur daß die Farbe heller war, kein düsteres Rot mehr, sondern ein leuchtendes Orange. Auch dieses Tor war ganz aus Stein gehauen und wurde von einer Tafel mit Schriftzeichen geschmückt.
Dort stand in großen Buchstaben zu lesen "Höhle des Feuers" - und kleiner darunter: "O Sucher, nur das Feuer der Liebe, wird dir den Weg zur nächsten Höhle weisen. Doch das Feuer der Begierde wird dich in den Untergang führen. Wer besitzen will, wählt die Zerstörung, nur wer zu geben bereit ist, ..."
Die letzten Worte waren unleserlich.
Das Zwergle drückte gegen die Türflügel. Doch diesmal gingen sie gar nicht leicht auf, sondern mußten mit ziemlicher Kraftanstrengung aufgedrückt werden.
Schließlich stand das Tor jedoch offen, und Zwergle trat in eine riesige Höhle, in welcher unzählige verschiedenartige Feuer brannten.
All diese Feuer loderten in wunderschönen tönernen Gefäßen, die eine brennende Flüssigkeit enthielten, vielleicht Öl oder Benzin oder so etwas.
All die Feuerschalen standen an den Rändern der Halle und auch auf Podesten über die ganze Halle verteilt, was nicht nur eine unglaublich feurige Atmosphäre verbreitete, sondern auch Loder-Geräusche der Flammen in allen Tonhöhen.
Staunend schritt Shanti zwischen den Flammen-Gefäßen umher und überlegte, was er denn eigentlich hier zu tun habe.
Er betrachtete die Sockel genauer, auf denen die Flammen-Schalen standen, und bemerkte, daß auf allen Sockeln unter den Schalen etwas Besonderes herumlag.
Unter einer Schale waren es wertvolle Edelsteine, unter einer anderen Goldstücke, unter wieder einer anderen wunderbare Früchte. Da waren es Schmuckstücke, dort waren es wunderschöne Bücher. Es schien, daß für jeden Geschmack etwas dabei war.
Shanti überlegte eine Zeit lang und war sich bald ziemlich sicher, daß er diese Schätze nicht mitnehmen durfte, wahrscheinlich nicht mal berühren.
'Hmmm ....,' überlegte er, ' ...trotzdem ist das alles zu offensichtlich. Man wird geprüft, ob man einer Versuchung widerstehen kann. Albern ...'
Shanti ging fast etwas enttäuscht über diese einfach Prüfung zwischen den Feuerstellen mit ihren Schätzen hindurch, sah sich alles staunend an, aber hütete sich, etwas zu berühren.
Bild (14)
Shanti läuft staunend zwischen all den Feuer-Tigeln und Schätzen herum ...
Gleichzeitig sah er sich gut um, wo denn die Ausgangs-Türe erscheinen würde, denn in der vorherigen Halle war das Ausgangs-Portal erst dann erschienen, als die Aufgabe beendet war. Er war also der Meinung, daß diese Aufgabe schon beendet sei, weil er die Schätze nicht berührt hatte.
Doch nichts war zu sehen und nichts geschah. So lange Shanti auch in der Halle herumlief und sich die prachtvollen Gegenstände und Leckereien ansah, es erschien keine Türe und es ereignete sich auch nichts Bedeutungsvolles.
Allzu lange warten durfte er aber auch nicht, denn die Zeit drängte.
Da beschloß er, eine kleine Probe zu machen. Er streckte die Hand ganz langsam nach einem der Schmuckstücke aus und berührte es mit der Fingerspitze. Prompt loderten die Flammen in der Schale hell auf und versengten Shanti sogar ein paar Haare. Erschrocken sprang er vor der Hitze zurück.
"Meine Herrn," murmelte er voller Selbsthumor, " ...wenn ich da erst richtig zugepackt hätte, wäre ich gegrillt worden ..."
Er überlegte ... und kam zu dem Schluß, das er hier das angekündigte Feuer der Zerstörung heraufbeschworen hatte, obwohl er ja nur so getan hatte, als ob er das Schmuckstück nehmen würde.
Die Inschrift berichtete jedoch auch von einem Feuer der Liebe, das die nächste Türe öffnen würde. Was in aller Welt mochte das nun bedeuten?
Shanti betrachtete nun ausgiebig die verschiedenen Feuerschalen und versuchte einen Unterschied zwischen ihnen zu erkennen. Aber so sehr er sich auch anstrengte, er vermochte keinen zu erkennen.
Die Zeit verging ... und das Zwergle wurde langsam nervös, denn es durfte einfach keine Zeit verlieren. Seine Mama brauchte das Heilmittel. Doch so sehr es sich auch anstrengte, es kam keine Lösung in Sicht. Die Feuer brannten weiter, und reagierten mit kräftigem Lodern, sobald der Versuch gemacht wurde, etwas zu nehmen.
Da geschah mit einem Male etwas seltsames ...
Shanti verlor schlagartig seine Nervosität und bekam mit einem Mal eine eiskalte Stimmung. Nie zuvor gekannte Wut, ja richtiger Zorn schoß in ihm hoch. Er brüllte: "Verdammt noch mal ... was soll das? Wieso geht es nicht weiter ..." Dann stieß er mit dem Fuß kräftig gegen einen der Sockel, daß dieser umfiel und das brennende Öl sich auf den Boden ergoß.
Eisiger Schrecken durchfuhr das Zwergle, als es die Auswirkungen seines Wutanfalls erkannte, doch das Unheil nahm unerbittlich seinen Lauf: Eine gewaltige Stichflamme schoß dem Zwergle entgegen und hüllte es ein. Es schrie laut auf, dann wurde es schwarz in ihm ...
***
Die Eule Schubidu erschrak fürchterlich, denn das Zwergle stieß mitten in seiner Trance plötzlich einen Schrei aus wirkte ganz wütend. Kurz hatte die alte Eule den Eindruck, als ob eine feurige Lohe das Zwergle umhüllen würde, dann war es schon wieder vorbei, und das Zwergle atmete wieder ruhig.
"Junger Freund," flüsterte die Eule Schubidu liebevoll, "wo Dein Geist sich auch gerade befinden mag, huhu, gib niemals auf. Weiche niemals zurück!"
Sie flog kurz auf, um sich eine Maus zu schnappen, die allzu sorglos vorbei huschte, dann setzte sie sich wieder neben ihren Freund, um ihn weiter zu bewachen, wie sie sich es vorgenommen hatte.
***
Shanti fühlte sich völlig ermattet!
Er wunderte sich, daß er nicht verkohlt war, so sehr hatte ihn die Stichflamme umhüllt. Dann erinnerte er sich aber, daß er ja nur als Energie-Wesen unterwegs war; sein biologischer Körper ruhte nach wie vor im Zwergleswald und wurde von der alten Eule bewacht.
Langsam erhob er sich und blieb noch eine Zeit lang am Boden sitzen. Er fragte sich, was aus dem Erlebnis zu lernen gewesen sei.
Gut, er hatte sich zu "Wut" hinreißen lassen. Ein großer Fehler. Die energetische Reaktion der Flammen war umgehend geschehen. Aber das war nichts Neues. Auch hatte er nicht mehr zu lernen, die Edelsteine und Leckereien einfach liegen zu lassen. Seit seinen Abenteuern mit der Wunschmaschine wußte Shanti, daß es nicht von Vorteil ist, etwas "haben" zu wollen. Was um alles in der Welt sollte die Prüfung hier in der Höhle des Feuers sein?
Shanti setzte sich aufrecht hin, um ganz bewußt und konzentriert die Situation noch einmal vor seinem inneren Auge vorbeiziehen zu lassen. Den Zeitdruck versuchte er dabei - so weit es nur möglich war - beiseite zu schieben.
Es betrachtete die Flammen, und wurde eins mit ihnen.
Er betrachtete die Schmuckstücke ... beobachtete innerlich zunächst sein altes Verlangen, etwas davon zu nehmen, dann beobachtete er, wie sich etwas dagegen zu wehren begann. Es war wie ein Verbot!
"Nein, du darfst nichts davon nehmen, Shanti, nur nichts begehren wollen, sonst verbrennen dich die Flammen ..." flüsterte es in ihm.
Er erschrak! Ein Verbot! Shanti wußte, daß in Verboten keine Wahrheit lag, sondern daß sie meist nur neue Probleme schufen und verhinderten, eine nötige Erfahrung auch wirklich zu machen.
Was nützte es, wenn er einem Menschenkind verbieten würde, ungesunde Süßigkeiten zu essen, wenn das Kind gerne Süßes ißt. Es würde ihm nicht helfen. Statt dessen müßte das Kind sich einmal ordentlich den Magen an allzu vielen Süßigkeiten verderben und spüren, daß ihm der viele Zucker jede Stärke raubt. Dann könnte es daraus lernen.
Mit einem Mal erkannte Shanti die Lage: Es ging nicht darum, etwas haben zu wollen oder nicht zu begehren, es ging darum, ein schönes Schmuckstück im richtigen Bewußtsein zu nehmen oder nicht zu nehmen.
Wie hatte die Schrift am Eingangsportal gelautet? Da war gestanden: O Sucher, nur das Feuer der Liebe, wird dir den Weg zur nächsten Höhle weisen. Doch das Feuer der Begierde wird dich in den Untergang führen. ...
' Liebe ... Liebe ...' überlegte das Zwergle, ' ...damit ist sicher nicht ein Gefühl gemeint, Mutterliebe oder Kameradschaft oder Liebe zwischen Ehepartnern ... es ist etwas Ewigeres gemeint. Etwas, das dauernd brennt, wie diese Flammen. Hmmm ... das Gegenteil von Liebe ist Haß. Haß entsteht aus völliger Trennung und Unbewußtheit. Also ist eine wirkliche Liebe so etwas wie Einssein durch völlige Bewußtheit ... Aber wie hilft mir das jetzt weiter?'
Das Zwergle fühlte nach diesen Gedanken plötzlich ein ganz warmes Gefühl im Herzen.
Da geschah etwas ganz eigenartiges: Es fühlte plötzlich, daß es selbst die Flammen WAR. Es stand auf, ging zu einer der Feuerschalen und nahm langsam, aber sehr konzentriert, ein wunderbares Schmuckstück aus der Ablage. Es war eine silberne Krone, reich verziert mit zahllosen Edelsteinen. Die Flammen loderten nach ihm, doch sie verbrennten das Zwergle nicht, sondern erwärmten sein Herz nur noch mehr.
Shanti fühlte sich, als wenn in diesem Moment alles Feuer der Welt in ihm brennen würde. Er floß fast über vor Kraft und liebevoller Zuneigung. Er war wirklich die Flamme selbst geworden. Er setzte die Krone auf. Und es schien, als ob sie zu ihm seit unendlichen Zeiten gehören würde. Es war nicht seine Krone, er wollte sie nicht besitzen, nein, er war zur Krone selbst geworden.
Bild (15)
Zwergle und die riesige Flamme sind EINS geworden. Zwergle hat die Krone auf dem Kopf und ist wahrlich zur Flamme geworden. Das Bild muß das klar ausdrücken. Außen herum die Schätze ...
Und da verstand er die Zusammenhänge: Man durfte all den Schmuck und die Schönheit der Welt nicht besitzen wollen, sondern man mußte stets fühlen, daß man selbst aus Schmuck und Schönheit besteht, ja daß das eigene Leben wie ein wunderbares Schmuckstück ist, edel, wunderbar, unvergleichlich.
Ein Wesen, das sich so fühlte, war auch bereit, sein ganzes Leben liebevoll und sonnig zu widmen. Wie eine feurige Flamme, ja, wie die Sonne selbst, die ihr Licht und ihre Wärme auch beständig und selbstlos an alle Wesen unseres Sonnensystems ausschüttete.
Als das Zwergle dies alles tief im Herzen fühlte, als es sich selbst fühlte, wie eine Sonne, strahlend und feurig, voller Liebe und Wärme, da war es ihm, als ob die Flamme selbst, die um ihn herum brannte, sich änderte.
Es war ihm, als ob in der Flamme selbst die Türe läge, die ihn aus dieser Höhle wieder hinausbringen würde. In der Flamme selbst öffnete sich ein Durchgang, wie ein Tunnel.
Shanti schritt hinein - und durch ihn hindurch.
Er hätte den Ausgang aus dieser Höhle niemals gefunden, wenn er nicht zur Flamme selbst geworden wäre. Hätte er immer nur Angst davor gehabt, daß er von den Flammen verbrannt werden würde, wäre er niemals wieder aus dieser Höhle herausgekommen.